Lage auf dem Westbalkan: Flüchtlinge im falschen Zug
Armut, Klientelismus, Korruption – das ist die Gegenwart des Westbalkan. Die EU muss endlich konsequenter handeln. Ein Kommentar.
Am Ostbahnhof von Budapest hielten Flüchtlinge Pappschilder hoch. „Freedom!“ stand auf einem. Auf einem anderen war zu lesen: „Kein Lager, kein Essen, kein Wasser – nur Freiheit!“ So viel politisch-poetisches Pathos hat jemand da für diese vier kurzen Zeilen aufgebracht, die in den Wunsch „Just Freedom!“ münden. Alle Grenzen, alle Hindernisse wollen sie überwinden, hunderttausende Männer, Frauen und Kinder, um – ja, um wo hinzugelangen? In die Europäische Union?
Sie waren, sie sind in Ungarn, Teil dieses Europa. Doch Ungarn scheint ihnen nicht für „just Freedom“ zu stehen. Auch Griechenland nicht, auch nicht Kroatien oder Slowenien. Nicht nur das: Nach Kroatien oder Slowenien reisen nicht einmal die, die nebenan aufbrechen, zwei Häuser weiter, aus Albanien, Kosovo, Mazedonien und Serbien. Nicht einmal die Wirtschaftsmigranten aus den Westbalkanstaaten stehen in Zagreb oder Ljubljana Schlange. Genau wie die zu Hause um ihr Leben fürchtenden Leute aus Syrien oder Afghanistan, suchen die Westbalkanmigranten das gelobte Land, Deutschland. „Ger-ma-ny!“ riefen Flüchtlinge unlängst in Ungarn im Chor. Österreich, na ja, damit könnte man sich zur Not anfreunden, eine Art Cousine von Germany, zweite Wahl. Made in Germany, das ist erste Wahl, eine Marke, Qualität. Germany ist Freedom plus. Es steht für Freedom plus Effizienz, Mercedes und Miele, Tennisasse und Torschützen. Hinzu kommt, dass viele der Flüchtenden bereits Verwandte und Freunde hier im bevölkerungsreichsten Staat Europas haben, Leute, an die sie sich zur Orientierung wenden können.
Attraktiv sind die Zielländer von Flüchtlingen, weil sie demokratische Freiheiten bieten
Wie pragmatisch oder illusionär auch immer die Vorstellungen vom Ziel eines Flüchtenden sein mögen – wenn Hunderttausende so sehr an einen Ort drängen, ist das für den Ort eine mächtige Empfehlung. Lass die Antiamerikaner dieser Erde nur reden: Millionen auf anderen Kontinenten wollen nach Amerika, eine Million davon schafft es Jahr für Jahr. Weder die EU noch die USA müssen Eigenwerbung betreiben, um Wanderer anzulocken. Das tun etwa Schilder, aus rissiger Pappe gebastelt, auf denen mit Filzstift „Freedom!“ geschrieben steht.
Attraktiv sind die Zielländer von Flüchtlingen, weil sie demokratische Freiheiten bieten – „Freedom!“, ein rechtsstaatliches System und Chancen auf Wohlstand. Es spricht sich schnell herum, dass es Länder gibt, wo man nicht jedem Arzt oder Beamten in der Baubehörde, jedem Richter oder Polizisten Schmiergeld zahlen muss. Es weckt Sehnsucht, von Ländern zu hören, in denen einen keine Haftzelle erwartet, weil man ein nicht genehmes Wort gesprochen hat. Und so sind die Züge der Flüchtenden umgekehrt auch eine äußerst negative Empfehlung für die Staaten und Regionen, aus denen sie kommen. Diese Territorien sind vom Bürgerkrieg zersprengt, wie Syrien, wo zugleich der „Islamische Staat“ (IS) ein Terrorregime errichtet. Auch der Irak ist vom IS befallen, Afghanistan wie Teile Pakistans von den Taliban, Nordnigeria von den Islamisten der Gruppe Boko Haram, Somalia von den Al-Shabaab-Milizen. Allesamt dysfunktionale Staaten, deren Brüchigkeit von religiös-fanatischen Terrortätern ausgenutzt wird. Viel mehr Negativreklame könnten die meisten von ihnen kaum produzieren.
Welche Werbung ist das für diese Staaten, Schützlinge der Europäischen Union?
Aber was sagt es aus, wenn unter den Asylsuchenden hunderttausende Migranten aus den vergleichsweise ruhigen, kleinen Westbalkanstaaten sind? Welche Werbung ist das für diese Staaten, Schützlinge der Europäischen Union? Teuer adoptiert wurden sie nach den Zerfallskriegen Jugoslawiens in den 1990er Jahren. Milliarden sind in das Nation Building des Kosovo geflossen, Millionen in Aufbauprojekte der ganzen Region. Einige der Kosovaren, die heute im Zugabteil neben Syrern sitzen, auf dem Weg nach Nordwesteuropa, waren schon mal dort – als Kriegsflüchtlinge. Heute sollten sie nicht in diesem Zugabteil sitzen. Sie gehören hier nicht her.
Aber sie wissen keinen anderen Weg. Armut, Misswirtschaft, Klientelismus, Korruption, Clanloyalitäten, Planungschaos, ethnisierte Eliten – das sind die südosteuropäischen Ingredienzien der Gegenwart. Mit Glück wird man darum herumkommen, „Failed States“ mitten in Europa zu erleben. Hilfreich sind dabei die Summen, die im Ausland arbeitende Exjugoslawen nach Hause senden, es sind unmittelbar wirksame Beiträge zur Prävention.
Dass sich aber überhaupt Kosovaren neben Syrern in denselben Zügen finden, ist der beschämende Ausweis für dysfunktionale Politik. Es ist das Resultat eines Mangels an demokratischer Konsequenz – in den Ländern dort wie in der EU – während des Aufbaus der Westbalkanstaaten nach den Kriegen. Nicht nur angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise, sondern präventiv, mit klaren Vorstellungen von Zukunft, muss sich die Europäische Union ihrer westbalkanischen Partner wieder prioritär annehmen. Als Erstes braucht es Arbeitsvisa, Perspektiven. Denn die Adoptivkinder sind flügge geworden, aber ihnen fehlen solide Häuser. Solange sind sie unterwegs und sitzen im falschen Zug.