Zwischen Riester und Raubtierkapitalismus: Finanzmärkte bestimmen zunehmend die Altersvorsorge - was zu tun ist
Selbst die klassischen Versicherer verteidigen den Garantiezins nicht mehr. Ein staatlicher Fonds mit einem Mischmodell wäre nötig. Ein Gastbeitrag.
Nils Röper ist Postdoctoral Research Fellow am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz.
Auch wenn Rentenausgaben der bei weitem größte Posten im Bundeshaushalt sind, treibt die Menschen in Deutschland die Sorge um die eigene Altersvorsorge um. Der langjährige Rückbau der gesetzlichen Rentenversicherung und die zunehmende Dominanz der Finanzmärkte schienen sich zuletzt vor zehn Jahren in der Finanzkrise zu einem perfekten Sturm zusammenzubrauen. Welche Lehren wurden daraus gezogen?
Ein zentraler Aspekt der Rentenfrage ist die Finanzierung. Altersvorsorge kann staatlich oder privat sein, umlagefinanziert oder kapitalgedeckt. Beim Umlageverfahren, das die deutsche gesetzliche Rentenversicherung prägt, gilt: Was reinkommt, geht gleich wieder raus.
Anders bei der kapitalgedeckten privaten und betrieblichen Vorsorge: Hier wird Kapital an Märkten angelegt. Renten werden so zunehmend von privaten Finanzdienstleistern verwaltet, die geringere Auszahlungsgarantien bieten, während die Abhängigkeit von Kapitalmarktentwicklungen wächst.
Das dazugehörige Schlagwort lautet „Finanzialisierung“. Gemeint ist damit die zunehmende Dominanz von Finanzlogiken, -märkten und -akteuren.
Bisher dominierte in Deutschland die versicherungsbasierte Lösung
Die kapitalgedeckte Vorsorge hat in Deutschland insbesondere seit der Riester-Reform vor 20 Jahren an Bedeutung gewonnen. Für viele war klar: Der Raubtierkapitalismus zerfleischt nun den Sozialstaat. Aber private Finanzmarktakteure wie Banken und Versicherer sind kein homogener Block. Sie verfolgen unterschiedliche Geschäftsmodelle und haben, was Anlagepolitik und Risikoabsicherung angeht, unterschiedliche Präferenzen.
Deutsche kapitalgedeckte Altersvorsorgeformen sind traditionell versicherungsbasiert. Sie sichern Risiken wie Langlebigkeit oder Berufsunfähigkeit ab und garantieren hohe Renditen. Diese Versicherungslösungen investieren vornehmlich in sichere Anleihen, sprich: Ihr Finanzialisierungsgrad ist gering.
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Mitte der 1990er Jahre drängten Banken und Investmentgesellschaften auf den Platz und wollten diese Art der Altersvorsorge aufbrechen. Es entspann sich ein Kampf um die Deutungshoheit über den Begriff Altersvorsorge. Banken und Investmentgesellschaften entwickelten finanzialisierte pensionsfondsartige Altersvsorsorgeprodukte und übten Druck auf den Gesetzgeber aus, diese zuzulassen. Ihr Argument: Nicht das Fehlen von Garantien sei das zentrale Risiko für Rentner, sondern die verpassten Renditen aufgrund übermäßig risikoaverser Anlagepolitik. Außer der Linkspartei ließen sich alle Fraktionen davon becircen.
Die Versicherer überließen ihren Herausforderern nicht kampflos das Feld. Die schließlich im Zuge der Riester-Reform eingeführten Pensionsfonds mit ihren umfangreichen Garantie- und Versicherungsverpflichtungen hatten kaum etwas mit den ursprünglichen Vorschlägen von Banken und Investmentgesellschaften zu tun. Dieser Sieg der Versicherer schien sich während der globalen Finanzkrise auch als Sieg für die deutschen Renten zu entpuppen. Doch so wenig deutsche kapitalgedeckte Renten während der Krise verloren, so gering war auch ihre Beteiligung an der Aktienhausse danach.
Die Abhängigkeit vom Kapitalmarkt verstärkt sich
Die Folgen sind paradox: Obwohl die globale Finanzkrise einen erheblichen Vertrauensverlust in finanzialisierte Politiklösungen nach sich zog, wurden in vielen Ländern Reformen verabschiedet, durch die Auszahlungsgarantien wegfielen und Investitionsvorschriften liberalisiert wurden – so dass sich die Kapitalmarktabhängigkeit noch weiter vertiefte. Eine große US-Bank sprach angesichts von Minizinsen vor einer bevorstehenden „globalen Rentenkrise“ und empfahl eine Abkehr von Auszahlungsgarantien für Rentner. IWF, OECD und selbst hiesige Verbraucherschützer warnen ebenfalls vor den Gefahren von Garantiezinsen.
Die Nullzins-Welt könnte also den Boden für beschleunigte Rentenfinanzialisierung bieten. Auch in Deutschland wurde 2017 mit dem Betriebsrentenstärkungsgesetz erstmals ein Modell betrieblicher Altersvorsorge ohne Auszahlungsgarantien eingeführt.
Und zwar mit Zustimmung der Versicherungsbranche, die sich 20 Jahre zuvor noch dagegen zur Wehr gesetzt hatte. Ihr unfinanzialisiertes Geschäftsmodell wackelt schließlich enorm. Sie investieren vor allem in festverzinsliche Wertpapiere, die unter niedrigen Zinsen leiden, so dass die garantierten Auszahlungen schwerer zu erwirtschaften sind. Ein ehemals wichtiger Gegner der Rentenfinanzialisierung verschwindet damit potenziell von der Bildfläche.
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Weitere Verschiebungen innerhalb der Finanzbranche seit der Finanzkrise könnten erheblichen Einfluss auf die Rentenpolitik haben. So sind Vermögensverwalter wie Blackrock und Vanguard zu riesigen Akteuren geworden, deren Präferenzen sich von anderen Finanzakteuren unterscheiden. Gleichzeitig ähnelt das Geschäftsmodell großer Versicherer immer mehr dem von Vermögensverwaltern. Diese Entwicklungen lassen neue und wirkmächtige Koalitionsbildungen innerhalb des Finanzsektors erahnen.
Spätestens seit Anfang der 1990er Jahre besteht hierzulande keine Lebensstandardsicherung durch die gesetzliche Rente mehr. Seither ist eine Mischung zwischen privaten und staatlichen Formen der Altersversorgung nötig. Unklar ist, welches Mischverhältnis, welche Ausgestaltung optimal ist.
Ein staatlicher Fonds wäre eine Möglichkeit
Dies ist vor allem eine politische Frage, denn Vergleiche zwischen Rentenmodellen sind überkomplex. Kapitalmärkte sind unvorhersehbar, Beschäftigungszahlen und Lohnentwicklungen aber auch. Umlage- und Kapitaldeckungsverfahren erleiden während Wirtschaftskrisen Renditerückgänge, beide sind nicht immun gegen rückläufige Geburtenzahlen. Sie sind lediglich unterschiedlich anfällig für unterschiedliche Risiken. Da sich Konjunktur, Bevölkerungsaufbau, Technologie oder eben das Zinsumfeld ständig im Wandel befinden, kann es kein objektiv oder mathematisch optimales Rentensystem geben.
Statt zu verzagen, lässt sich daraus ein rentenpolitisches Leitmotiv ableiten. Überlegungen zu Rendite und Sicherheit sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es ist eine Mischung zu finden, die den langfristigen Vorteilen einer Anlage in Substanzwerte und den Gefahren kurzfristiger Schwankungen Rechnung trägt.
Ein staatlicher Fonds wäre eine Möglichkeit. Verschiedene Vorschläge werden aktuell aus unterschiedlichen politischen Richtungen unterbreitet. Ein Staatsfonds mit geringen Verwaltungskosten und großem Absicherungspotenzial müsste entpolitisiert werden, um berechtigten ordnungspolitischen Bedenken zu begegnen. Zum einen durch eine neutrale institutionelle Verortung, etwa bei der Deutschen Bundesbank oder der Deutschen Rentenversicherung. Zum anderen durch eine passive Anlagepolitik, wie etwa bei Indexfonds.
Ein derartiges Konstrukt könnte einer ganzheitlichen sozial- und wirtschaftspolitischen Perspektive auf die Altersversorgung gerecht werden. Panik bei Bullenmärkten und das Bedauern verschenkter Möglichkeiten bei Bärenmärkten dürften zumindest gedämpft werden.
Nils Röper