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Eine Demonstration in Kreuzberg aus dem Kreis der Querdenker-Bewegung.
© imago images/Future Image

„Die Gefahr einer Terrorzelle besteht“: Extremismusforscher beunruhigt über wachsende Gewaltbereitschaft bei Querdenkern

Sie attackieren Polizisten, stellen die Bundesrepublik als Diktatur dar: Extremismusforscher Stefan Goertz sieht die Radikalisierung der Querdenker mit Sorge.

Dr. Stefan Goertz ist Professor für Sicherheitspolitik an der Hochschule des Bundes im Fachbereich Bundespolizei. Sein Schwerpunkt ist die Extremismus- und Terrorismusforschung. Dieses Interview stellt seine persönliche Auffassung dar.

Herr Goertz, Sie haben als Extremismusforscher die Querdenker-Bewegung von Anfang an beobachtet. Für wie besorgniserregend halten Sie deren Entwicklung?
Es wird immer wieder betont, dass bei den Corona-Demonstrationen auch viele Menschen aus der „bürgerlichen Mitte“ dabei seien. Schon seit vergangenem Herbst kann man aber beobachten, dass sich viele dieser Demo-Teilnehmer nicht mehr abgrenzen von Rechtsextremisten, Reichsbürgern und Verschwörungsideologen. Der legitime Protest gegen die Corona-Politik der Regierung ist zunehmend abgelöst worden durch eine grundsätzliche Staats- und Politikfeindlichkeit. Die Bundesrepublik wird mit einer Diktatur gleichgesetzt und damit delegitimiert. Die Corona-Demos radikalisieren sich, die Gewaltbereitschaft nimmt zu. Das Eskalationspotenzial ist in den letzten Wochen deutlich gestiegen.

Woran machen Sie das fest?
Man kann aktuell eine verstärkte Aggression gegen Polizisten feststellen, wie sie etwa jetzt wieder auf einer Corona-Demo in Schmalkalden in Thüringen zu beobachten war. Ebenso beunruhigend sind auch die zahlreichen Angriffe auf Pressevertreter. Journalisten sind vergleichsweise leichte Opfer, weil sie gut zu erkennen sind und bei der Demo mitlaufen.

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Viele Querdenker und Corona-Leugner stellen die Bundesrepublik als Diktatur dar.
Viele Querdenker und Corona-Leugner stellen die Bundesrepublik als Diktatur dar.
© dpa

Jetzt wurde bekannt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz Personen und Teile der Querdenker-Bewegung beobachtet.
Das hat sich bereits seit einiger Zeit abgezeichnet. Die Landesbehörden für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Berlin beobachten Teile der Querdenker schon. Die Verfassungsschützer sehen eine neue Form des Extremismus. Wobei es natürlich starke personelle Überschneidungen gibt zum rechtsextremen Spektrum oder der Reichsbürgerszene.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder warnt vor einer „Corona-RAF“. Halten Sie das für realistisch?
Die Befürchtung dabei ist ja, dass sich aus der Querdenker-Szene heraus kleinere Gruppen abkapseln, die einen Radikalisierungsprozess durchlaufen und zu einer Terrorzelle werden. Diese Gefahr besteht. Je größer der Glaube an Verschwörungstheorien, desto größer die Bereitschaft zu kriminellen Handlungen. Das können Angriffe auf Regierungseinrichtungen sein, aber auch auf Politiker. Noch schwerer für die Sicherheitsbehörden feststellbar wären radikalisierte, unorganisierte Einzeltäter – zumindest, wenn sie ihre Tat vorher nirgendwo kommunizieren.

Derzeit ist bei Telegram eine Todesliste deutscher Politiker im Umlauf, die für das Infektionsschutzgesetz gestimmt haben.
Das muss man ernst nehmen. Wenn man sich die Radikalisierungsverläufe von Terroristen in der Vergangenheit anschaut, dann sieht man: Motive wie Rache an Politikern sind Radikalisierungsfaktoren. Beispiele sind der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und der Angriff auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker.

Der Sicherheitsexperte Stefan Goertz.
Der Sicherheitsexperte Stefan Goertz.
© privat

Was befördert so eine Radikalisierung?
Wenn es klare Feindbilder gibt, dann wird Gewaltanwendung befördert. Das können Politiker sein, Vertreter des Staates, Journalisten. Für Stephan Ernst, den Mörder von Walter Lübcke, waren dessen asylbefürwortende Aussagen in der Flüchtlingskrise der Anlass für den Mord. Die Coronakrise könnte der Anfang einer noch größeren Radikalisierungswelle sein. In der Querdenker-Szene wähnt man sich im Widerstand gegen eine angebliche Diktatur. Das ist sehr gefährlich. Dann kann Gewalt als „legitime“ Notwehrhandlung gegen den Staat und seine Vertreter gerechtfertigt werden. Bei Rechtsterroristen haben wir solch ein Denken in der Vergangenheit bereits gesehen.

Gelingt es Rechtsextremisten, die Corona-Proteste zu instrumentalisieren?
Sie wollen ihre Ideologieelemente in die bürgerliche Mitte hineintragen, auch neue Anhänger rekrutieren. Da nutzen ihnen die Demos natürlich, weil es die Teilnehmer zusammenschweißt, wenn sie gemeinsam marschieren und gemeinsame Feindbilder haben. Reichsbürger und Rechtsextremisten erkennen da ein großes Potenzial. Besonders wichtig war für die Szene der 29. August mit dem sogenannten Sturm auf den Reichstag, weil er natürlich entsprechende Bilder produziert hat mit Reichskriegsflaggen vor dem Parlamentsgebäude.

Auf den Demos werden zum Teil auch ganz unauffällige Leute aggressiv. Radikalisiert sich da eine vermeintliche Mitte der Gesellschaft gleich mit?
Es ist noch immer eine sehr bunte Mischung aus Impfgegnern, Esoterikern, Rechten, Verschwörungsgläubigen, die da aufläuft. Wie die Teilnehmer ticken, was ihre Motive und Hintergründe sind – das muss empirisch genauer untersucht werden. Verbreitet unter den Teilnehmern ist in jedem Fall dieser Gedanke, das Volk werde von der Regierung verraten, Wissenschaft und Journalisten steckten mit ihr unter einer Decke. Meine Sorge ist, dass sich daraus eine demokratiefeindliche Bewegung entwickelt, die nicht einfach wieder verschwindet, wenn die Pandemie im Griff ist. Corona war dann vielleicht nur der Anfang. In Zeiten von wirtschaftlicher Unsicherheit und höheren Arbeitslosenzahlen ist das Radikalisierungspotenzial noch größer.

Am 1. Mai stehen nicht nur zahlreiche Demonstrationen der linken Szene bevor, auch Rechtsextreme und Querdenker mobilisieren. Befürchten Sie an dem Tag eine Eskalation?
Der 1. Mai ist Anlass für verschiedene gewaltbereite Demonstrationen. Wir haben in den vergangenen Wochen gesehen, dass die Querdenker ihre Aktivitäten deutlich hochgefahren haben. Wenn diese dann auf Gruppen von Linksextremisten treffen, kann das natürlich eskalieren.

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