Spekulationen um „No Deal“: Ex-Botschafter: Johnson hofft auf Wahlsieg Trumps
Londons Regierungschef Johnson will einen Deal mit der EU sausen lassen, falls Trump die US-Wahl gewinnt. Dies ist offenbar die Lesart in den EU-Haupststädten.
Der britische Regierungschef Boris Johnson will nach einem Bericht der Zeitung „Observer" zunächst das Ergebnis der US-Präsidentschaftswahl am 3. November abwarten, bevor er über seinen Kurs bei den Verhandlungen mit der EU über einen Handelsvertrag entscheidet. Eine Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump werde Johnsons Bereitschaft erhöhen, auf eine Vereinbarung mit der EU zu verzichten, berichtete das Blatt unter Berufung auf den ehemaligen britischen Botschafter bei der EU, Ivan Rogers.
Nach den Worten von Rogers geht man in den Hauptstädten in der EU davon aus, dass ein Ausscheiden Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt ohne Handelsvertrag für Johnson im Fall einer Wahl des demokratischen Kandidaten Joe Biden zum US-Präsidenten ein zu großes Risiko darstellen würde. Rogers war von 2013 bis Anfang 2017 Ständiger Vertreter des Vereinigten Königreichs bei der EU in Brüssel gewesen. Ein halbes Jahr nach dem britischen EU-Referendum beendete er wegen Meinungsverschiedenheiten mit der damaligen Premierministerin Theresa May seine Tätigkeit. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt bleibt er nach Angaben der Zeitung in regelmäßigem Kontakt mit hochrangigen Regierungsbeamten in der EU.
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Großbritannien ist im vergangenen Januar bereits aus der EU ausgeschieden. Nach dem Austritt aus der Gemeinschaft ringen beide Seiten seit Monaten ohne große Fortschritte über die Gestaltung ihrer künftigen Wirtschaftsbeziehungen. Bis Ende des Jahres gilt eine Übergangsfrist, in der Großbritannien im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt. Wenn innerhalb der kommenden Wochen keine Lösung bei den Verhandlungen über den Handelsvertrag gefunden wird, droht die Einführung von Zöllen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU.
Nach dem Bericht des „Observer" gilt eine Handelsvereinbarung mit der EU für Johnson nur als zweitbeste Lösung. Demnach setzt der britische Regierungschef bei der US-Präsidentschaftswahl auf einen Sieg von Trump, um anschließend rasch ein Handelsabkommen zwischen London und Washington abschließen zu können.
Biden hält offenbar nicht viel von Johnson und seinem Team
Anders sähen die Dinge nach den Angaben von Rogers bei einem Wahlsieg von Biden aus. Der demokratische Präsidentschaftskandidat sei fest entschlossen, die Beziehungen zur EU, die nach dem Amtsantritt Trumps im Januar 2017 einen schweren Schaden erlitten hatten, wieder zu verbessern. Eine Amtsübernahme durch Biden werde wohl zum Nachteil der „Special Relationship“ zwischen London und Washington sein. „Ich glaube nicht, dass Biden oder seine engsten Mitarbeiter anti-britisch sind. Aber ich glaube, sie halten nicht sehr viel sowohl von Johnson als auch von seinen Spitzenleuten", wurde Rogers von der Zeitung zitiert.
Dass Biden anders denkt als Johnson, hat er bereits in der Diskussion um das britische Binnenmarktgesetz deutlich gemacht. Johnson hatte das umstrittene Gesetz, das gegen internationales Recht verstößt, auf den Weg gebracht, um bei den gegenwärtigen Verhandlungen mit der EU Druck auf die Gegenseite auszuüben. Falls das Binnenmarktgesetz in der vorgesehenen Form umgesetzt würde, könnte eine „harte Grenze“ zwischen Nordirland und der Republik Irland entstehen. Biden hatte indes verlangt, dass Großbritannien Grenzkontrollen in der einstigen Bürgerkriegsregion unbedingt verhindern müsse.