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Wohin, Europa? Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, kommt ins Europäische Parlament um während der Plenarsitzung ihre erste Rede zur Lage der Union zu halten.
© Olivier Hoslet/dpa

Umfrage unter EU-Bürgern: Europäer fühlen sich in Coronakrise von der EU im Stich gelassen

Eine Studie zeigt: Ihre Bürger haben den Eindruck, dass die EU in der Krise versagt hat. Dennoch wünschen sie sich „mehr Europa“. Wie passt das zusammen?

Mark Leonard ist Direktor und Mitbegründer des paneuropäischen Think Tanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Ivan Krastev ist Co-Vorsitzender des ECFR, Vorsitzender des Zentrums für Liberale Studien in Sofia und ein Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Der Text basiert auf einer Studie des ECFR.

Die Covid-19-Krise hat sowohl einen „europäischen Moment“ als auch einen „nationalistischen Moment“ ausgelöst. Vier Tage und Nächte haben die Staats- und Regierungschefs im Juli in Brüssel intensiv (und sozial distanziert) verhandelt, bis sie nach hartem Ringen das Abkommen über den EU-Wiederaufbaufonds erzielten.

Dieses wurde als Meilenstein auf dem Weg zu einem stärker integrierten Europa gefeiert, in dem die einzelnen Mitgliedstaaten Zuständigkeiten an Brüssel abgeben.

Die EU-Kommission nimmt nun für alle EU-Staaten gemeinsam Kredite auf. Das wird als „Hamilton-Moment“ gefeiert: So wie es dem früheren US-Finanzminister Alexander Hamilton einst gelang, die Schulden einzelner Bundesstaaten der Verantwortung der US-Bundesregierung zu übertragen, hätten die europäischen Staats- und Regierungschefs nun einen großen Schritt in Richtung Vereinigter Staaten von Europa gemacht. So jedenfalls das Argument.

Der EU-Wiederaufbaufonds in der Coronakrise ist ein Durchbruch

Der Wiederaufbaufonds ist tatsächlich ein echter Durchbruch. Der berechtigte Stolz auf das mühsam erzielte Abkommen sollte aber nicht dazu führen, dass die politischen Köpfe Europas die Warnsignale übersehen, die von diesem „europäischen Moment“ ausgehen.

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Umfragen im Auftrag des European Council on Foreign Relations (ECFR) in neun europäischen Ländern, die insgesamt zwei Drittel der europäischen Bevölkerung stellen, zeigen eines: Die starke Forderung nach abgestimmten Maßnahmen auf EU-Ebene, um einzelnen Ländern zu helfen, sich von der Krise zu erholen und Europas globales Überleben sicherzustellen, gründet sich eher auf Enttäuschung denn auf Unterstützung für die bestehenden Institutionen.

Eigentlich sind die Europäer enttäuscht von der EU in der Coronakrise

Wir haben die Umfrage zu Anfang des Sommers durchgeführt. Die Ergebnisse offenbaren, dass sich die Europäer während der Covid-Krise von EU-Institutionen, multilateralen Organisationen und Europas engsten Verbündeten völlig im Stich gelassen fühlten. 63 Prozent der Befragten in Italien und 61 Prozent in Frankreich gaben an, dass sich die EU in der von der Pandemie geschaffenen Krisensituation nicht bewährt habe.

Viele waren – zu Recht oder zu Unrecht – von der ersten Reaktion der EU enttäuscht. Doch gleichzeitig schuf die Krise die Überzeugung, dass eine mit mehr Macht ausgestattete Union die einzige Chance für Europa darstellt, künftig auf globaler Ebene eine maßgebliche Rolle zu spielen.

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Zum Opfer der Pandemie – auch das zeigen unsere Ergebnisse – wurde das Vertrauen der Europäer in die USA. Nur rund zwei Prozent der befragten Europäer waren der Meinung, dass die USA ein „hilfreicher Verbündeter“ im Kampf gegen Covid gewesen seien. Mehr als 70 Prozent der traditionell pro-amerikanischen Dänen und Portugiesen gaben an, dass sie die USA nun kritischer sähen. 68 Prozent der Franzosen, 65 Prozent der Deutschen und 64 Prozent der Spanier äußerten ebenfalls diese Ansicht.

Der Wunsch nach mehr Europa hängt mit der Krise der transatlantischen Beziehungen zusammen

Die Krise der transatlantischen Beziehungen ist nicht nur auf die Abneigung der Europäer gegenüber Donald Trump, seiner „Amerika zuerst“-Politik und seinem explosiven Twitter-Account zurückzuführen. Sie gründet sich auch auf die Reaktion der USA auf die Pandemie, die bei vielen Europäer Kopfschütteln auslöste. Sie nehmen die USA als zu schwach und dysfunktional wahr und trauen dem Land die Verteidigung der westlichen Welt nicht mehr zu.

Gleichzeitig sind die Europäer skeptisch und misstrauisch geworden was die Zukunft der Partnerschaft zwischen der EU und China angeht. Die Pandemie und Chinas Politik in Hongkong haben Chinas hässliches autoritäres Gesicht offenbart. China hat alles getan, um von seiner Verantwortung für den Ausbruch der Covid-Krise abzulenken.

Und Peking hat alles versucht, um Zwietracht innerhalb der EU zu säen. In allen europäischen Ländern außer Bulgarien hat sich die Beurteilung Chinas infolge der Krise verschlechtert. Das war selbst in Ländern wie Portugal und Spanien der Fall, in die chinesische Beatmungsgeräte und Schutzausrüstung geschickt wurden.

Nur, wenn die EU-Staaten zusammenarbeiten, können sie sich Pandemien, Großmachtschikanen und dem Klimawandel entgegenstellen

Die Befürchtung, dass die Welt nach Covid-19 in chaotische Zustände abgleiten könnte, hat die Europäer erkennen lassen: Nur wenn sie auf EU-Ebene zusammenarbeiten, können sie sich Pandemien, Schikanen durch Großmächte und dem Klimawandel wirksam entgegenstellen. Unsere Umfragen zeigen, dass in jedem einzelnen Land eine Mehrheit überzeugt ist, die Krise zeige die Notwendigkeit einer stärkeren Zusammenarbeit auf EU-Ebene.

Auf Nachfrage äußern die Europäer klar, was sie sich von Zusammenarbeit auf EU-Ebene erwarten: Eine Europäische Union, die die Kontrollen an ihren Außengrenzen verschärft, die die Produktion essenzieller Güter zumindest teilweise nach Europa zurückbringt und die entschlossen gegen den Klimawandel vorgeht.

Angesichts der Probleme, die die EU-Länder in den ersten Monaten der Pandemie bei der Beschaffung von persönlicher Schutzausrüstung hatten, fordern die Europäer, dass medizinische Güter wieder in Europa produziert werden – selbst wenn dies zu höheren Preisen führt. Es besteht die Hoffnung, dass mit dem Billionen-Euro-Finanzpaket Spitzenprojekte finanziert werden können, die Europa sichtbar sicherer machen, von Impfstoffen und Medikamentenvorräten bis hin zu massiven Investitionen in Solarenergie oder in digitale Innovationen. Und dass solche Projekte in dem von Covid ausgelösten Tsunami der Unsicherheit die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit Europas sichern.

Die Bürger wollen, dass Europa wichtige Güter wieder in der EU herstellt - auch, wenn das teurer wird

Die Covid-Krise hat auf eigenartige Weise die Spaltungen in Europa zwischen Nationalisten, die einzelstaatliche Lösungen fordern, und Kosmopoliten, die eine gemeinsame globale Führung befürworten, durcheinander gewirbelt. Einerseits scheinen viele Nationalisten erkannt zu haben, dass europäische Zusammenarbeit der einzige Garant dafür ist, die Bedeutung der Einzelstaaten zu wahren.

Hier ist ein bemerkenswertes Umdenken feststellbar: Trotz des Aufstiegs der Populisten in den vergangenen Jahren ist nicht einmal jeder fünfte Befragte der Meinung, dass die Zusammenarbeit auf EU-Ebene zu weit gegangen sei. Andererseits haben viele Kosmopoliten in der Krise erkannt, Europa seine Werte dann am besten bewahren kann, wenn es seine eigene „strategische Souveränität“ stärkt, statt sich auf globale multilaterale Institutionen zu verlassen.

Die Spaltung zwischen Nationalisten und Kosmopoliten ist nicht mehr eindeutig

Doch dieser „europäische Moment“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Europa keine Mehrheit für mehr EU-Integration gibt – nicht einmal eine leidenschaftliche Minderheit. Was Europas Bürger derzeit denken, erinnert stark an das, was der britische Historiker Alan Milward in seinem Buch „Die europäische Rettung des Nationalstaates“ argumentierte: Das Ziel des europäischen Projekts sei es gewesen, die einzelstaatliche Souveränität zu stärken, nicht, sie zu schwächen.

In Milwards Analyse ging es darum, dass die betroffenen Nationen in den 50er Jahren ihre jeweiligen Staaten von tief verwurzelten inneren Konflikten befreien wollten. Bei der Forderung nach „mehr Europa“ im Jahr 2020 geht es jedoch darum, den Nationalstaat gegenüber Druck von außen zu schützen. Die uns vorliegenden Daten legen nahe, dass Europas Bürger Brüssel stärken wollen, damit ihre Nationalstaaten relevant bleiben.

Der "Hamilton-Moment" könnte in Euroskepsis umschlagen

Dieses Paradox ist ernüchternd. Die breite Öffentlichkeit wünscht sich mehr Handeln auf EU-Ebene, weil sie den Eindruck hat, dass die EU in der ersten Phase der Krise versagt habe. Der Wunsch basiert nicht auf der Annahme, die EU habe sich als Problemlöser bewährt.

Wenn Politiker auf staatlicher und europäischer Ebene also nicht entschlossen und schnell handeln, könnte dieser „Hamilton-Moment“ einer neuen Welle der Euroskepsis weichen.

Die Menschen wünschen sich nicht eine perfekte Union oder eine neue europäische Verfassung. Nein, der Wunsch nach „mehr Europa“ wurzelt in einer tiefsitzenden Angst der Bürger, in einer gefährlichen Welt die Kontrolle zu verlieren. Es geht darum, die nationale Souveränität zu stärken. Dies ist eher ein Europa des Schicksals als eines der Wahl.

Mark Leonard, Ivan Krastev

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