EU-Gesetzgebung unter Frans Timmermans: Europa rutscht in die Post-Demokratie ab
EU-Kommissar Frans Timmermans will künftig nicht gewählte Technokraten entscheiden lassen, ob und wie das Parlament Gesetze ändern darf. Dabei braucht Europa mehr Demokratie, nicht weniger. Ein Kommentar.
Der Plan kommt ganz harmlos daher. Die „Rechtsetzung“ in Europa solle „besser“ werden, erklärt Frans Timmermans, Vizechef der EU-Kommission. Darum solle es künftig „mehr Transparenz und Kontrolle“ geben, wenn die EU neue Gesetze beschließe, verspricht der Kommissar. Und dafür sollten sich auch das EU-Parlament und der Rat der EU-Regierungen vertraglich verpflichten, alle Gesetzesänderungen noch vor jeder Abstimmung einer „rigorosen“ Prüfung zu unterwerfen, fordert Timmermans und legte jetzt einen entsprechenden Vertragsentwurf vor.
Das klingt plausibel – und ist doch grob irreführend. Denn die wohlklingenden Worte verbergen in Orwell’scher Manier eine gegenteilige Absicht: Der Kommissar und sein Chef, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, wollen die europäische Gesetzgebung dem Einfluss durch Bürger und Parlamente entziehen und stattdessen ungewählte Technokraten darüber urteilen lassen, was reguliert werden soll und was nicht.
Ihr Instrument ist ein neuer „Ausschuss für Regulierungskontrolle“, dessen sechs Mitglieder „autonom“ eine „Folgenabschätzung“ betreiben. Schon bisher lässt die Behörde, die das alleinige Vorschlagsrecht für EU-Gesetze hat, für jeden ihrer Entwürfe Nutzen und Kosten für Unternehmen oder Bürger analysieren. Weil das aber etwa bei Regeln zum Schutz der Umwelt oder der Gesundheit nicht objektiv zu messen ist, sind die Ergebnisse umstritten. Die Gesetzgeber, also die EU-Parlamentarier und die Abgesandten der nationalen Regierungen im Rat, folgten oft anderen Erwägungen.
So viel Demokratie wollen Juncker und Timmermans künftig verhindern. Künftig sollen, so sieht es ihr Plan vor, auch die Parlamentarier und Ratsmitglieder jeden Vorschlag zur Änderung eines von den Kommissaren gewünschten Entwurfs erst mal zur Folgenabschätzung vorlegen, bevor sie es wagen, ihren Willen in Gesetze zu gießen.
Eine zusätzliche bürokratische Instanz
All das soll angeblich Europas Unternehmen und Bürger vor unnötigem „Verwaltungsaufwand“ schützen. Tatsächlich aber schaffen die vermeintlichen Bürgerfreunde eine zusätzliche bürokratische Instanz, mit der sie Europas Unternehmen davor schützen wollen, dass diese ihre Arbeitnehmer, die Gesundheit der Bürger und die Umwelt besser schützen müssen. Genau das war nämlich das Ergebnis des Programms, mit dem schon die vorherige Kommission „Bürokratieabbau“ betrieb. Dabei blieben etwa ein Rahmengesetz zum Schutz der Böden, europaweite Vorschriften für den Mutterschutz, strengere Regeln für die Zulassung von Medikamenten oder die Einrichtung einer EU-Behörde für Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz auf der Strecke.
Diesen Trend würde der Timmermans-Plan noch verschärfen. Denn zu allem Überfluss sollen drei der sechs Mitglieder des Kontrollausschusses von außen berufen werden. Wann immer aber Europas Zentralbehörde bisher solche externen Berater hinzuzog, machten die Kommissare die Böcke zu Gärtnern und beriefen Fachleute, die den jeweils betroffenen Unternehmen nahestehen. Zuletzt brachte es die Juncker-Truppe sogar fertig, ihr Gremium zur Bekämpfung der Steuerflucht mehrheitlich mit Fachleuten aus Unternehmen zu besetzen, die selbst in die organisierte Steuervermeidung verstrickt sind, darunter auch Vertreter der Banken HSBC und Barclays sowie des Prüfungskonzerns KPMG, die bei den Steuerskandalen in der Schweiz und in Luxemburg eine zentrale Rolle spielten.
So gerät Europa Schritt für Schritt immer tiefer in jenen Zustand der „Post-Demokratie“, vor dem der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch schon vor zehn Jahren warnte. Weil die Gesetzgebung in eine transnationale Sphäre verschoben wird, die sich der öffentlichen Kontrolle entzieht, verliert die Demokratie ihre Substanz und die Bürger wenden sich ab. „Wer eigentlich nur die derzeitige EU-Politik ablehnt, dem bleibt nichts anderes übrig, als sich gegen das ganze EU-System als solches zu wenden“, konstatiert auch die Europa-Expertin und Politikberaterin Ulrike Guérot – ein Umstand, der sich zusehends in der Wahl von Parteien niederschlägt, die wie der französische Front National den Rückfall in den Nationalismus betreiben.
Wenn die EU-Parlamentarier oder zumindest deren proeuropäische Mehrheit sich selbst ernst nehmen, dann sollten sie den Timmermans-Plan rundheraus zurückweisen und das genaue Gegenteil fordern: eine Reform, die europäische Volksinitiativen erleichtert und endlich Volksentscheide ermöglicht. Die EU braucht mehr Demokratie, nicht weniger. Andernfalls sind ihre Tage gezählt.