Thomas de Maizière im Interview: "Europa muss bei Flüchtlingen solidarisch sein"
Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat nachgezählt: Deutschland habe seit Beginn der Krise in Syrien 105.000 Menschen aufgenommen. Künftig müssten auch anderen europäische Länder mehr Verantwortung übernehmen.
- Matthias Meisner
- Antje Sirleschtov
Herr de Maizière, gefährdet die Debatte über wachsende Flüchtlingszahlen in Deutschland und die Furcht vor einer „Asyllawine“ unseren Ruf im Ausland?
Den Begriff „Asyllawine“ lehne ich ab. Es geht um Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen. Das wird leider in der Diskussion manchmal vergessen. Ja, die Zahl der Schutzsuchenden ist sehr groß. Und es überrascht niemanden, dass das Diskussionen auslöst in der Bevölkerung. Aber unserem Ruf schadet das nicht. Im Gegenteil: Der UN-Flüchtlingskommissar bezeichnet Deutschland als Vorbild. Wir nehmen allein ein Drittel aller Asyl-Antragsteller in der Europäischen Union auf.
Kaum ein Flüchtlingsheim, vor dem keine Demonstrationen stattfinden, Kommunalpolitiker, die beschimpft werden: Überrascht Sie das Ausmaß der Kritik nicht?
Insgesamt wünsche ich mir mehr gegenseitige Rücksichtnahme. Aber, dass es Demonstrationen gibt, ist dann in Ordnung, wenn die Menschen ihre Sorgen in angemessener Art und Weise zum Ausdruck bringen. Manche demonstrieren gegen Umgehungsstraßen oder gegen ein Flüchtlingsheim in ihrer unmittelbaren Umgebung. Hier kann nach unserem Grundgesetz kein Unterschied gemacht werden zwischen „guten“ und „bösen“ Demonstrationen. Was ich allerdings nicht akzeptieren kann, das ist das Ausmaß an Beschimpfungen, das es gibt und den zum Teil beleidigenden Ton, der immer unerträglicher wird oder gar Bedrohungen. Und ich finde, dass sich Bürger, die ihrem Unmut auf der Straße Luft machen wollen, sehr genau ansehen sollten, wer neben ihnen steht und ob derjenige ihren Protest für seine rechtsextremen und ausländerfeindlichen Ziele missbrauchen will.
Im Fall der Linken-Politikerin Petra Pau ist das Versammlungsrecht vor der Wohnung eingeschränkt worden, weil Demonstranten sie bedroht haben. Ist das übertrieben?
Nein. Ich finde es absolut richtig, dafür zu sorgen, dass Familien von Menschen, die ein öffentliches Amt wahrnehmen, nicht belästigt werden. Neben den bekannten Fällen, etwa dem Bürgermeister von Tröglitz, gibt es in Sachsen, aber nicht nur dort, eine ganze Reihe von Bürgermeistern, die bedroht werden, beispielsweise weil sie sich für Flüchtlinge einsetzen. Auch deren Familien, ihre Kinder, werden unter Druck gesetzt. Ich finde das unerträglich.
Können Sie Betroffenen und ihren Familien Hilfe zusagen?
Die Betroffenen haben meine vollste Solidarität. Für die konkreten Maßnahmen sind allerdings die Polizeien der Länder zuständig.
Dresden ist mit Pegida zum Sinnbild des Protestes geworden. Überrascht Sie die Kontinuität dieses Phänomens?
Nein. Klar ist, dass in anderen Orten ganz eindeutig rechtsextremistische Gruppierungen das Zentrum dieser Märsche sind. Davon abgesehen aber gibt es bei einem großen Teil der Demonstranten oder Sympathisanten kritische Fragen nicht nur zum Thema Asyl, sondern grundsätzlich zur Politik. Diesen Fragen muss sich die Gesellschaft insgesamt stellen. Ich spreche seit einiger Zeit regelmäßig mit den Menschen in großen Veranstaltungen darüber und es gibt eine Menge Kritik und Unverständnis.
Was kritisieren die Leute?
Die Bandbreite ist sehr groß und reicht von der Höhe von Sozialleistungen über die Rundfunkgebühr bis hin zur Zwangsmitgliedschaft von Handwerkern und Unternehmen in den Kammern. Die Auswirkungen von Konflikten etwa in der Ukraine oder die Flüchtlingszahlen besorgen die Menschen genauso wie die Unsicherheiten, die die Globalisierung mit sich bringt. Mein Eindruck ist, dass es nicht ausreicht, wenn Politiker sich vornehmen, Entscheidungen und Entwicklungen besser zu erklären, obwohl auch das wichtig ist. Ganz offensichtlich gibt es eine größer gewordene Kluft zwischen der sogenannten gesellschaftlichen Elite und Teilen der Bevölkerung. Dagegen müssen beide Seiten etwas tun. Es mag sein, dass sich der Protest etwa bei den Pegida-Märschen am Thema Asyl festmacht. Aber er geht viel weiter und wir können die Menschen nicht alle als Rechtsextreme stigmatisieren und so tun, als lösten sich die Probleme, wenn nur genug Gegendemonstranten auf die Straße gehen.
Was wollen Sie gegen die aufgeheizte Stimmung tun?
Es gibt eine überwältigende Offenheit gegenüber den Menschen, die in Deutschland Schutz suchen und ich erlebe eine große Hilfsbereitschaft. Nicht nur Kirchen und Sozialeinrichtungen, sondern auch viele Bürger bringen sich ein. Pegida ist nicht die Mehrheit. Ich denke, es ist immer wieder nötig, dass wir, die Regierung und die Politik insgesamt, für dieses Engagement und die Menschlichkeit Danke sagen. Gleichzeitig sage ich aber auch: Wenn wir diese Offenheit gegenüber den zu uns Kommenden erhalten wollen, dann können wir nicht alle Asylbewerber gleich behandeln. Bewerber, bei denen in einem ordentlichen Verfahren festgestellt wurde, dass sie nicht politisch verfolgt sind, müssen Deutschland so rasch wie möglich wieder verlassen.
Das Bundesamt für Migration schätzt, dass in diesem Jahr 300 000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, aus den Bundesländern hört man fast doppelt so hohe Zahlen. Ist das Panikmache?
Ich ärgere mich darüber. Die Schätzungen des Bundesamtes für Migration waren in den vergangenen Jahren nicht schlecht. Ich verstehe, dass Landes- und Kommunalpolitiker, die mit dem Bund über Geld für die Unterbringung von Flüchtlingen sprechen, ihre Argumente gern mit großen Zahlen untermauern wollen. Es wäre allerdings ein Fehler, politische Forderungen mit unsicheren Prognosen zu untermauern, die im Übrigen großes Verunsicherungspotential haben.
Auch die Prognose des Bundesamtes würde eine Steigerung von 50 Prozent gegenüber 2014 bedeuten.
Eben. Niemand kann angesichts der Lage der Welt die Zukunft genau vorhersagen, aber eine Hochrechnung der Zahlen der ersten drei Monate auf das gesamte Jahr ist jedenfalls unseriös. Wir haben im Februar feststellen müssen, dass aus dem Kosovo zum Teil bis zu 1500 Menschen am Tag nach Deutschland gekommen sind. Vielfach durch Schlepperbanden mit dem Versprechen, sie würden hier großzügige Begrüßungsgelder bekommen. Es hat uns massive Anstrengungen und Initiativen mit der Regierung des Kosovo, von Serbien und den europäischen Partnern gekostet, um diese Entwicklung – gerade auch im Interesse des Kosovo selbst – aufzuhalten. Mitte März kamen in Folge weniger als 150 Menschen pro Tag. Menschlich ist es absolut verständlich, dass Menschen aus Serbien oder Albanien in Deutschland ein besseres Leben suchen. Aber wir müssen klar machen, dass wir eine solche Form von Armutszuwanderung und eine Nutzung des Asylrechtes für soziale Zwecke nicht hinnehmen werden.
Länder und Kommunen fordern von Ihnen, der Bund möge sich grundsätzlich um die Unterbringung der Flüchtlinge kümmern und sie bezahlen. Sind Sie bereit dazu?
Es ist noch nicht einmal vier Monate her, dass der Bund für diesen Zweck für dieses und kommendes Jahr je 500 Millionen Euro zu Verfügung gestellt hat und die Länder das akzeptiert haben. Wir waren uns einig, dass dies für die Jahre 2015 und 2016 eine „ausgewogene und abschließende“ Regelung ist. Ich sehe jetzt keinen Grund, von dieser Vereinbarung abzuweichen. Ich rate allen großen politischen Parteien, auch in den Ländern und den Kommunen dringend, bei der Bewältigung der großen Herausforderungen der Flüchtlingszahlen eng zu kooperieren. Wenn der Eindruck entsteht, dass die Politiker sich gegenseitig Vorwürfe machen, statt gemeinsam die Probleme vor Ort zu lösen, dann könnte das die Akzeptanz der Bevölkerung sehr schnell verringern und politisch den Rechtsextremen nutzen.
Herr Minister, das dritte Aufnahmeprogramm des Bundes für Flüchtlinge aus Syrien läuft jetzt aus. Wird es weitere Programme aus Deutschland geben?
Deutschland hat in den humanitären Aufnahmeprogrammen bislang rund 30 000 Flüchtlinge aufgenommen. Zusammen mit circa 75000 Asylbewerbern sind seit Beginn der Krise in Syrien 105 000 Menschen aufgenommen worden. Deshalb finde ich es angemessen, dass das nächste Aufnahmeprogramm ein europäisches Programm wird und es endlich gelingt, dass sich alle europäischen Partner gemeinsam an einer solidarischen Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen. Wir bestehen nicht einmal darauf, dass die bisher von Deutschland erbrachten erheblichen Vorleistungen auf die Quoten eines solchen europäischen Programmes angerechnet werden. Aber ich sage auch: Es geht nicht, dass sich einige europäische Länder aus dem Chor der Solidarität weiter fernhalten wollen.
Herr de Maizière, die große Koalition will ein Gesetz zur Speicherung von Vorratsdaten machen. Wie konnte es zu dem Sinneswandel der SPD kommen?
Kein Kommentar. Ich setze aber immer auf die Kraft der Argumente und bin sehr froh darüber, dass wir uns jetzt diesen Weg gemeinsam vorgenommen haben. Mein Ziel ist ein Gesetz, das vernünftig in der Sache und verfassungsfest ist und das die lange kontroverse Debatte um den Sinn und die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung befriedet.
Wird es noch vor der Sommerpause einen Vorschlag für das Gesetz geben?
Ich möchte das Verfahren zügig in Gang setzen, aber dem federführenden Justizminister nicht vorgreifen. Mein Ziel ist eine Lösung, die die große Koalition möglichst breit mittragen kann.
Thomas de Maizière (61) wurde in Bonn geboren, ist aber seit 1999 Wahl-Dresdner. Seine Kinder haben alle in Sachsen Abitur gemacht. Seit in Dresden die ersten Pegida-Aufmärsche stattfinden, sucht de Maizière das Gespräch zu den Landsleuten, um zu erfahren, was sie umtreibt. Beinahe vergessen: Der heutige Innenminister begann in Berlin seine Karriere als Redenschreiber des Bürgermeisters Richard von Weizsäcker, war später dann Mitarbeiter von Eberhard Diepgen und half 1990 beim Einigungsvertrag mit. Ende April will de Maizière mit seinen Beamten aus Moabit aus- und in das neue Bundes-Innenministerium in Kanzleramtsnähe einziehen. Das Gespräch führten Matthias Meisner und Antje Sirleschtov.