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Deutschland und Europa sind in diesem US-Wahlkampf viel öfter Thema als bei den Wahlen zuvor.
© REUTERS

US-Wahlkampf: Europa irritiert die Amerikaner - und fasziniert sie

Im Wahlkampf scheinen die USA vielen Europäern wieder weit weg zu sein. Aber Europa ist den Amerikanern jetzt näher, als viele denken. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Christoph von Marschall

Auf einmal fühlt sich der Atlantik wieder breit und trennend an. Die Amerikaner wählen einen neuen Präsidenten. Doch viele Forderungen, die aus ihrem Wahlkampf in deutsche Ohren dringen, klingen irritierend: eine Mauer an der Grenze zu Mexiko, Einreiseverbote für Muslime, Flächenbombardements gegen den IS. Wenn mal etwas darunter ist, was sich bekannt und selbstverständlich für Europäer anhört wie die Vorschläge des Sozialisten Bernie Sanders zur allgemeinen Krankenversicherung und einem kostenlosen Studium, dann heißt es: Das sei in den USA nicht durchsetzbar und irgendwie unamerikanisch. Ja, spinnen die Amis denn?

Wenden sich die USA unter Obamas Nachfolger vollends von Europa ab?

Ist dies noch das Land, das Europas Schicksal mit seinem verknüpft hat? Dessen Einwohner in erdrückender Mehrheit von Einwanderern aus Europa abstammen; das in zwei Weltkriege eingriff, um Deutschland und Europa von seinen selbstzerstörerischen Dämonen zu befreien; das Hitler besiegte, den Westdeutschen eine freie demokratische Grundordnung gab und später als einziger Verbündeter die Wiedervereinigung aus vollem Herzen unterstützte?

Barack Obama hatte den Deutschen die Zuneigung, die sie ihm nach den verstörenden Bush-Jahren entgegenbrachten, nicht gedankt. Er verkündete eine Wende nach Asien und ließ die Kanzlerin abhören. Wenden sich die USA unter seinem Nachfolger vollends von Europa ab?

Nein. In Wahrheit passiert etwas Bemerkenswertes 2016. Deutschland und Europa sind in diesem Wahlkampf viel öfter Thema als bei den Wahlen zuvor. Das gilt im Guten wie im Schlechten. Donald Trump dient Deutschland als abschreckendes Beispiel für eine falsche Flüchtlingspolitik. Germany habe die Kontrolle verloren, lasse potenzielle Terroristen ohne Papiere ins Land, die Kriminalität wachse. Er klingt so wie die AfD, Marine Le Pen oder Viktor Orbán.
Hillary Clinton lobt in ihren Wahlkampfreden die deutsche Energiepolitik und die vielen neuen Jobs, die daraus entstehen. Drei Staaten, sagt sie, hätten die Chance, zum World Champion der erneuerbaren Energien zu werden: Deutschland, China, Amerika. Natürlich will sie die USA zu diesem Champion machen.

Europa ist auch bei der Krankenversicherung Vorbild

Europa ist auch das Vorbild, wenn Bernie Sanders eine allgemeine, staatlich organisierte Krankenversicherung fordert. Und aus Steuern finanzierte Universitäten, damit Absolventen nicht mit hohen Schulden ins Berufsleben starten, weil das Studium über 100.000 Dollar kostet.

Auch die Biografien der führenden Kandidaten erinnern die Amerikaner daran, in welchem Maße Europäer ihr Schicksal beeinflusst haben. Bernie Sanders ist der Sohn eines polnischen Juden, der 1921 im Alter von 17 Jahren nach New York einwanderte. Donald Trumps Großvater Friedrich Drumpf kam 1885 im Alter von 16 aus Kallstadt in der Pfalz nach Amerika. Ted Cruz’ Großvater war Spanier und emigrierte von den Kanaren nach Kuba; von dort wanderte Vater Cruz erst nach Kanada weiter, wo Ted auf die Welt kam, und dann in die USA.

Die schrillen Töne kommen vielen Deutschen fremd vor

Die schrillen Töne und manche Wahlkampfmethoden mögen den Deutschen 2016 besonders fremd vorkommen. 2008 herrschte wegen der mitreißenden Frage, ob erstmals eine Frau oder erstmals ein Afroamerikaner Präsident(in) wird, noch Faszination, heute dominiert eher die Irritation. In Wahrheit jedoch ist Europa den Amerikanern plötzlich wieder viel näher, als viele denken.

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