Währungspolitik und Euro-Krise: "Europa der zwei Räume"
Wie lässt sich die latente Euro-Krise bewältigen? Der Sozialwissenschaftler Fritz W. Scharpf macht einen Vorschlag, der den Nord-Süd-Konflikt dämpfen könnte.
Herr Scharpf, die Euro-Zone ist starken inneren Spannungen ausgesetzt. Manche sagen, sie funktioniert nicht. Wo liegen die tieferen Ursachen der Krise?
Es sind weiterhin die großen Strukturunterschiede zwischen den früheren Hartwährungsländern im Norden mit ihrer starken Exportorientierung, vor allem Deutschland, und den südeuropäischen Weichwährungsländern, deren Wirtschaft stärker auf ihren Binnenmarkt ausgerichtet war und ist. Die Spannungen, die sich auch in unterschiedlichen Inflationsraten ausdrückten, wurden früher durch Änderungen bei den Wechselkursen kompensiert – die Weichwährungsländer werteten ab und erhielten sich so ihre Wettbewerbsfähigkeit. In der Währungsunion geht das nicht mehr. Das Ergebnis: immer höhere Leistungsbilanzüberschüsse im Norden, immer höhere Defizite im Süden, am Ende die Euro-Krise von 2010.
Wie sieht die derzeitige Lösung aus?
Seit 2010 wird versucht, die strukturellen Unterschiede zu überwinden, indem die Defizitländer sich stärker am Modell der Überschussländer orientieren. Sie sollen also stärker exportorientiert wirtschaften, weniger Schulden machen, Lohnsteigerungen dämpfen. Das traditionell stärker auf Inlandsnachfrage ausgerichtete Süd-Modell soll so verschwinden. Aber damit verschwindet eben auch ein Teil der dortigen Produktionskapazität. Es ist der Weg durch ein Tal der Tränen, mit kleinen Erfolgen – der Exportanteil in Griechenland oder Portugal ist, gemessen an der gesamten Wirtschaftsleistung, gestiegen. Aber die Arbeitslosigkeit bleibt hoch.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ein Eurozonen-Parlament vorgeschlagen, um ein demokratisches Defizit in der Euro-Politik auszugleichen, aber auch die Dominanz der Politik der Strukturreformen zu brechen. Wäre das eine Möglichkeit?
Es würde nicht funktionieren. Die Abgeordneten aus dem Süden müssten dann die schreiende Ungerechtigkeit eines Systems anprangern, das den wirtschaftlichen Interessen des Nordens entspricht, und die Parlamentarier aus dem Norden müssten den Frust ihrer Steuerzahler artikulieren, die sich vor astronomischen Finanzrisiken fürchten und sich über die angebliche Unzuverlässigkeit und Inkompetenz der Südländer erregen. Es ist eine politisierte Konfrontation. Mir erscheint es ausgeschlossen, dass das jetzige oder auch ein anderes Euro-Regime im Konsens beschlossen werden könnte.
Welche Rolle spielen die viel kritisierten deutschen Export-Überschüsse? Warum kann man die nicht einfach verringern?
Das ist gar nicht so einfach, weil sie das Ergebnis eines Jahrzehnte zurückreichenden deutschen Sonderwegs bei der wirtschaftlichen Entwicklung sind. Die starke Exportorientierung ist dabei nur ein Faktor. Ein anderer ist die starke Rolle der Bundesbank, deren Stabilitätspolitik immer darauf gerichtet war, rigoros alle inflationären Impulse zu unterdrücken. Die Folge war eine stetige Aufwertung der D-Mark. Das machte Importe billiger, nutzte also auch anderen Ländern, während Exporte teurer wurden – was aufgefangen wurde, indem sich die deutsche Exportindustrie noch mehr auf Güter und Produkte spezialisierte, die weniger preisempfindlich sind. Zum Beispiel im Maschinenbau. Mit der Globalisierung seit 1990 wuchs die Nachfrage nach diesem Angebot massiv. Dank der nun entstehenden Möglichkeit, Teile der Produktion in osteuropäische Länder auszulagern, wurden Kostennachteile ausgeglichen. Und so ist der Exportanteil an der Wirtschaftsleistung heute eben bei etwa 50 Prozent. In der Währungsunion können die anderen Länder aber nicht mehr abwerten und über billige Importe nach Deutschland ihre Wirtschaft flott halten. Der deutsche Exportüberschuss steigt daher immer mehr. Zur Stabilisierung der Währungsunion müsste diese Schere aber wieder geschlossen werden.
Nun heißt es, wir sollten einfach mehr investieren. Und mehr konsumieren, also auch die Einkommen steigen lassen. Ist das die Lösung?
Nur zum Teil. Wer vom Export lebt, wird nicht unbedingt daran gehen, seine Produkte durch deutliche Lohnsteigerungen zu verteuern. Und deutsche Sparer kann man nicht zwingen, einfach mal mehr auszugeben. Mehr staatliche Investitionen wären ein Weg, aber sie würden nicht reichen, die deutsche Export-Import-Lücke zu schließen.
Wenn Deutschland mit seiner Sonderrolle das Problem ist, könnte es doch aus dem Euro austreten.
Das wird aus politischen Gründen aber keine Bundesregierung machen.
Dann also raus mit den schwachen Ländern aus dem Euro?
Das geht nur, wenn man Regeln findet, die Vertrauen schaffen und die ein Austrittsland nicht völlig abstürzen lassen. Das war bisher nicht der Fall, sonst hätte Griechenland diesen Weg schon gewählt. Es braucht gültige Regeln für den einvernehmlichen Austritt und eine klare Perspektive für die Beziehungen nach einem Austritt. Das liefe auf einen europäischen Währungsverbund hinaus mit der Eurozone als Kern und einer zweiten Gruppe mit eigenen Währungen. Ein Europa der zwei Räume sozusagen.
Wie sähe das konkret aus?
Im Grunde bestehen die institutionellen Voraussetzungen dafür bereits. Es gibt den „Wechselkursmechanismus II“, das ist der Nachfolger des 1979 von Helmut Schmidt und Valery Giscard d’Estaing geschaffenen Europäischen Währungssystems. Das hatte feste Wechselkurse, aber es gab die Möglichkeit, diese flexibel zu handhaben. Dieser Wechselkursmechanismus hat heute nur noch ein Mitglied: Dänemark, weil es dem Euro nicht beitreten will, aber seine Krone eng an den Euro gebunden hat. Griechenland und andere Länder, welche die strikten Anforderungen einer Währungsunion nicht erfüllen können, könnten diese Struktur aber nutzen. Sie könnten ihre Währungen an den Euro koppeln und sich im Verbund auch gegen Schwankungen der Kurse und spekulative Attacken auf den Devisenmärkten schützen. Dafür stünden die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Europäischen Zentralbank zur Verfügung. Oder auch ein Europäischer Währungsfonds, wie ihn Finanzminister Wolfgang Schäuble auch schon ins Gespräch gebracht hat.
Wer bliebe in der engeren Währungsunion?
Neben Deutschland der frühere „DM-Block“, also etwa die Niederlande, Österreich oder Luxemburg. Dazu die baltischen Mitgliedstaaten. Vielleicht auch Irland und Spanien, wenn sie eine stärkere Konvergenz mit den Nord-Ländern anstreben und dafür mehr Koordination und Kontrolle in Kauf nehmen. Möglicherweise auch Frankreich.
Wie würde sich das global auswirken?
Ich glaube, dass das Gewicht eines solchen Europäischen Währungsverbundes auf den weltweiten Finanzmärkten und in internationalen Finanzverhandlungen noch größer wäre als das der Eurozone heute. Den größten Vorteil aber hätte die europäische Politik. Sie wäre nicht länger durch den latenten Nord-Süd-Konflikt gelähmt, und Deutschland wäre nicht länger der Zuchtmeister, der eine autoritäre Politik durchsetzt. Vom Zwangsregime der gegenwärtigen Währungsunion befreit, könnte Europa dann die Krisen und Aufgaben bewältigen, bei denen gemeinsame Interessen gemeinsames Handeln erfordern.
Fritz W. Scharpf, Jahrgang 1935, gehört zu den renommiertesten deutschen Sozialwissenschaftlern und leitete viele Jahre das Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung.