Nach dem Giftgasangriff: Europa darf sich in Syrien nicht mehr wegducken
Angesichts des neuen Giftgasangriffes in Chan Scheichun müssen sich die Regierungen fragen, ob sie vor der Geschichte versagen, wenn sie nicht angemessen reagieren. Ein Kommentar.
Hunderttausende Tote, Millionen auf der Flucht, und mehr als 80 Prozent der Kinder, die überlebt haben, sind durch den jahrelangen brutalen Krieg, durch erlebte Gräueltaten schwer traumatisiert – das ist Syrien heute. Das Syrien von morgen sieht auch nicht besser aus. Nicht nach den jüngsten Nachrichten über einen neuen Giftgasangriff und das Bombardement eines Krankenhauses für Giftgasopfer. Und wir haben keine andere Sorge, als Europa so abzuschotten, dass nur ja kein Flüchtling mehr durchkommt?
Da sitzen die Europäer nun – und grämen sich hoffentlich. Sie tragen einen Teil Verantwortung für diese Lage. Das syrische Militär hat nach Erkenntnissen des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen schon viele, viele Kriegsverbrechen begangen, hat auch schon im vergangenen Jahr gezielt Kliniken und willkürlich andere zivile Einrichtungen und bewohnte Gebiete aus der Luft angegriffen, hat Menschen an der Flucht gehindert und Hilfsgüter zurückgehalten, um die Gegner von Machthaber Baschar al Assad zur Aufgabe zu zwingen.
Schon 2013 sind 1400 Menschen durch Giftgas getötet worden. Syriens „Regierung“ stimmte danach zu, alle Giftgasvorräte zu vernichten. Bis auf Chlor, weil es für zivile Zwecke gebraucht wird. Dennoch hat es niemand seither vermocht, dem mörderischen Treiben Einhalt zu gebieten; niemand hat Russland und China im UN-Sicherheitsrat von einem Veto gegen Sanktionen für Syrien wegen des Chemiewaffeneinsatzes abgebracht. Oder klare Konsequenzen daraus gezogen.
Richtig und zugleich unsäglich hilflos wirkt da, dass die Bundesregierung die europäischen Partner trotz des wiederholten Scheiterns einer UN-Resolution zur Ächtung dieser Kriegsführung drängt. Aber wo sind von der EU gemeinschaftlich verhängte harte Sanktionen gegen die, die das Assad-Regime militärisch unterstützen?
Ohne Intervention wird es nicht gehen
Nun lautet der Einwand, dass keiner einen Ersatz für Assad nennen kann, mit dem es besser würde; wie im Fall Libyen ohne Muammar al Gaddafi. Das macht das Zuschauen nicht besser. Eben weil immer noch unfassbar viele Menschen sterben und fliehen. Und weil Syrien ohnehin nie mehr das Land sein wird, das manche vor Augen haben, die es die Krone Arabiens nennen. Doch ohne Intervention wird es nicht gehen, so oder so nicht. Auch der Aufbau nach einem Frieden erfordert eine dauerhafte Intervention.
Erst einmal muss aber Frieden geschaffen werden, und da müssen die Europäer sich selbst und vor der Welt Rechenschaft ablegen. Als die USA eine rote Linie nach der anderen von Assad tatenlos überschreiten ließen, traten nicht etwa die Europäer an, den Verstoß zu ahnden, sondern sie duckten sich, versteckten sich hinter Kritik an Barack Obama. So weit ist es gekommen, dass Europa über das benachbarte Syrien längst nicht mehr entscheidend mitverhandelt. Das tun jetzt Russland, der Iran und die Türkei, was einer politischen Demütigung gleichkommt – so gering werden Einfluss und Nachhaltigkeit der EU-Bemühungen eingeschätzt. Das allerdings kann noch gefährlichere Folgen haben.
So nah ist der Nahe Osten, dass auffallen muss, welches Sprengpotenzial für die Welt da außerdem noch ist. Israel – das Europa und den USA alle Informationen für den Kampf gegen den IS wie auch gegen Assad gegeben hat – kann einer Bedrohung durch Syrien nicht zusehen. Tut es auch nicht: Wo Syrer Terror unterstützen, werden sie bekämpft; wo die iranische Hisbollah Waffen erhält, wird bombardiert. Wehe, das hat Gegenreaktionen zur Folge – die können zur atomaren Kettenreaktion führen.
Hunderttausende Tote, Millionen auf der Flucht: Europas Regierungen müssen sich die Frage vorlegen, ob es ein Versagen vor der Geschichte bedeutet, nicht dem angemessen zu handeln. Oder ob sie das Versagen ertragen wollen – weil sie die Vorstellung, dem Krieg in Syrien mit allen Mitteln ein Ende bereiten zu sollen, nicht ertragen können.
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