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Zwei Kinder werden nach dem Gifgasangriff auf Chan Scheichun im Krankenhaus behandelt.
© AFP

Tödlicher Giftgasangriff: Das syrische Grauen

Bei einem Angriff mit Giftgas sterben in Nordsyrien mindestens 58 Menschen, darunter Kinder. Die Welt ist schockiert. Warum stoppt niemand diese Kriegsverbrechen? Fragen und Antworten.

Im syrischen Bürgerkrieg ist wieder ein dramatischer Tiefpunkt erreicht: Viele Menschen sterben qualvoll bei einem erneuten Angriff mit Giftgas. Und trotz des weltweiten Entsetzens ist zu befürchten, dass auch dieses Kriegsverbrechen in Syrien noch lange nicht das letzte war.

Was ist in Chan Scheichun passiert?

Der Luftangriff mit Giftgas richtete sich offenbar gegen die von Rebellen kontrollierte Stadt Chan Scheichun in der nordsyrischen Provinz Idlib. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte starben mindestens 58 Zivilisten, darunter mehrere Kinder. Viele Menschen wurden verletzt. Die Opfer hätten unter Atemproblemen gelitten, sich erbrochen und seien ohnmächtig geworden. Einige hätte Schaum vor dem Mund gehabt, sagt die Beobachtungsstelle. Außerdem sei das Krankenhaus, in dem Opfer behandelt wurden, ebenfalls bombardiert worden.

Die Beobachtungsstelle, die den Rebellen nahesteht, gilt inzwischen als halbwegs seriöse Quelle, auch wenn sich ihre Berichte oft nicht im Detail überprüfen lassen. Viele Angaben haben sich jedoch in der Vergangenheit als zutreffend erwiesen. Deutsche Sicherheitskreise sagten am Dienstag, die Berichte über den Angriff mit Giftgas klängen „plausibel“. Auch Guido Steinberg, Nahostexperte der in Berlin ansässigen Stiftung Wissenschaft und Politik, geht davon aus, dass die Angaben zutreffen.

Wer ist für den Angriff verantwortlich?

Sowohl Sicherheitsexperten als auch Steinberg halten es für wahrscheinlich, dass Assads Luftwaffe Chan Scheichun mit Giftgas attackiert hat. „Es kann eigentlich nur das Regime sein“, sagt Steinberg. Die Terrormiliz IS verfüge zwar auch über Senfgas, sei aber von der Provinz Idlib „weit weg“. In der Region dominiert die Miliz Dschabhat Fatah al Scham, die sich bis Juli 2016 Dschabhat al Nusra nannte und als Filiale von Al Qaida auftrat. Die Dschihadisten kooperieren in Idlib mit weiteren militant islamistischen Vereinigungen wie Ahrar al Scham.

Welchen Grund hätte das Assad-Regime für die Attacke?

Die Truppen des Diktators seien durch drei Offensiven der Aufständischen unter Druck geraten, sagt Steinberg. Es gebe massive Angriffe der Rebellen in der Provinz Hama (südlich von Idlib), in der Provinz Latakia (westlich von Idlib) und in Damaskus. „Der Druck auf Assads Leute ist groß, die sind erschrocken“, betont der Nahostexperte. Das Regime hole alles heraus, „was es zur Verfügung hat, zumal es an Soldaten fehlt“. Der Angriff auf Chan Scheichun sei auch eine „Gewaltdemonstration“. Gezielt werde ein Ort attackiert, in dem die Aufständischen stark seien.

An der Offensive in der Provinz Hama seien mehrere tausend Kämpfer beteiligt, sagt Steinberg. Es gehe darum, den eigenen Machtbereich zu konsolidieren und auszuweiten. Der im März gestartete Überraschungsangriff der Dschabhat Fatah al Scham in Damaskus sei aber eher „ein Verzweiflungsakt“. Die Streitkräfte des Regimes hatten mehrere Versorgungstunnel der Aufständischen zu ihren Gebieten am Rand der Hauptstadt zerstört. Beim Angriff sei es den Dschihadisten gelungen, dem Zentrum von Damaskus nahe zu kommen, sagt Steinberg.

Womöglich noch gefährlicher für das Regime ist die Offensive dschihadistischer Milizen in der Region Latakia. Sie ist eine Hochburg der Anhänger Assads. Außerdem unterhält die russische Luftwaffe hier einen Stützpunkt nahe dem Ort Hmeimim. 70 Kilometer südlich befindet sich die russische Marinebasis in Tartus. Sollten die Rebellen den russischen Stützpunkten nahe kommen, wäre das eine Blamage für Assads Regime.

Welches Giftgas wurde eingesetzt?

Angesichts der mutmaßlich hohen Zahl von Todesopfern vermuten Sicherheitskreise wie auch Steinberg, das Regime habe Sarin eingesetzt. Auch Senfgas könnte infrage kommen. Assads Truppen verfügten zwar auch über Chlorgas und hätten es mehrmals eingesetzt, heißt es übereinstimmend, doch dessen Wirkung sei nicht so stark. Restbestände von Senfgas und Sarin habe das Regime offenbar noch „in der Hinterhand“, sagt Steinberg. Unklar sei aber, ob der Angriff auf Chan Scheichun von Damaskus aus befohlen wurde. Denkbar sei, dass die in Hama stationierten „Tiger“-Einheiten selbstständig handelten.

Geführt werden die Truppen von einen Offizier, der aus dem Geheimdienst der Luftwaffe stammt. So oder so sei das Regime für den Angriff mit Giftgas verantwortlich, betont Steinberg, „es sind Assads Leute“.

Wie reagiert US-Präsident Donald Trump?

Im Wahlkampf hatte Donald Trump dem damaligen Präsidenten Barack Obama eine schwächliche Syrienpolitik vorgeworfen. Syrien war ein Paradebeispiel für die Klage, niemand zeige mehr den nötigen Respekt vor Amerika. Er werde das ändern. Was er anders machen wolle, hat er nicht gesagt. Der erneute Giftgaseinsatz wäre eine solche Gelegenheit. Obama hatte den Gebrauch dieser verbotenen Waffen 2012 zur „roten Linie“ erklärt, bei deren Überschreiten die USA intervenieren würden. Er hatte dann aber nicht gehandelt. Am Dienstag reagierte das Weiße Haus zunächst nicht auf die Meldung vom erneuten Giftgaseinsatz.

Ungeachtet der Rhetorik des Politikwechsels verfolgt Trump eine ähnliche Strategie wie Obama. Nach den Erfahrungen in Afghanistan und im Irak sollen die USA nicht in einen weiteren Konflikt in einem islamischen Land hineingezogen werden, schon gar nicht in einen Einsatz von Bodentruppen. Den politischen Preis für die passive Rolle ist der Präsident bereit zu bezahlen: Er hat keinen prägenden Einfluss auf die Entwicklung. Vergangene Woche hatten US-Außenminister Rex Tillerson und die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Nikki Haley, erklärt, der Sturz des syrischen Machthabers Assad sei nicht oberstes Ziel der USA. Als Hauptfeind gelte der IS. Nach dieser Devise hatte auch Obama gehandelt.

Welche Lehren zieht Trump aus Obamas Erfahrungen?

Im Rückblick war Obama im syrischen Bürgerkrieg von Beginn an in einem Widerspruch gefangen. Er definierte strategische Ziele der USA, war aber nicht bereit, die Mittel einzusetzen, um sie zu erreichen: Assad sollte stürzen, aber der IS nicht an die Macht gelangen. Doch die Kräfte der moderaten Opposition erwiesen sich als zu schwach. Die Unterstützung des kurdischen Kampfes gegen Assad beschwor zudem für die USA eine weitere Komplikation herauf: einen Konflikt mit dem Nato-Partner Türkei.

Dann kam im August 2012 die Pressekonferenz, bei der Obama gefragt wurde, was ihn veranlassen könne, die Politik der Nicht-Intervention zu überdenken. Er antwortete, er sei besorgt über den Transport von Chemiewaffen in Syrien. Ihr Einsatz sei eine rote Linie. „Das würde mein Kalkül verändern.“ Damals war unklar, ob die syrische Armee Chemiewaffen aus Depots holte, um zu verhindern, dass sie in die Hände aufständischer Extremisten fallen, oder um sie einzusetzen.

Im August 2013 wurde Giftgas in einem Vorort von Damaskus eingesetzt, laut internationalen Untersuchungen von Regierungstruppen. Mehr als 1400 Menschen starben, darunter 400 Kinder. Obama sagte, der Tabubruch müsse Konsequenzen haben, und kündigte eine „begrenzte militärische Aktion“ an. Er forderte aber, der US-Kongress müsse zustimmen. Das wurde als Entscheidungsschwäche ausgelegt. Das britische Parlament stimmte gegen Militärschläge und hinderte Obamas Verbündeten David Cameron an einer gemeinsamen Operation mit den USA.

Wenige Tage später machte Russlands Präsident Wladimir Putin das Angebot, Assad zur Abgabe seiner Chemiewaffen zu bringen, falls die USA die Luftangriffe nicht ausführten. Damit befreite Putin Obama aus seinem Dilemma, eine angedrohte Intervention ausführen zu müssen, obwohl er die USA aus dem Syrienkrieg heraushalten wollte. Und er rettete seinen Schützling Assad vor dem Sturz.

2015 griff Russland mit Luft- und Bodentruppen in Syrien ein, nachdem Assad um militärische Hilfe gebeten hatte. Aus US-Sicht hat sich die gewohnte strategische Lage umgedreht. Nicht die USA haben das Problem, wie sie eine Intervention, die daheim nicht sonderlich populär ist, zu beenden, sondern Russland. Syrien liegt nun in Putins Verantwortung. Er muss herausfinden, wann und wie er seine Soldaten abzieht. Und er muss eine Lösung für den Bürgerkrieg finden. Auch Trump hat offenbar keine Ambitionen, sich an Syrien die Finger zu verbrennen.

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