Von Eurokrise bis Russland: Europa – am Ende?
Schon oft steckte die EU in einer Krise. Bislang ging immer alles gut aus. Doch jetzt ist die Lage bedrohlicher denn je. Europa steht akut vor der Frage, ob es in seiner heutigen Form überlebt. Ein Essay.
Gefahren abwehren kann nur, wer sie kommen sieht. Wovon hängt es ab, ob Gesellschaften spüren, dass sie auf eine existenzielle Krise zusteuern? Oder ob sie sich in der Sicherheit wiegen, dass es schon gut gehen werde?
Europa hat Krisen und Kriege erlebt. Spiegelte sich die heraufziehende Gefahr im Lebensgefühl in den zwei Jahren davor? 1912/13 ahnten die wenigsten, dass ein Weltkrieg bevorstand. 1937/38 waren die Risiken greifbar, aber die Krisendiplomatie konnte den Krieg nicht abwenden. Ziemlich unbedarft schlitterten die Bürger 1998/99 in den Börsencrash, der auf die IT-Blase folgte, sowie in die Finanzkrise von 2008. Und nahezu ahnungslos in die Ära des Al-Qaida- Terrors. Er drang erst durch 9/11 ins allgemeine Bewusstsein.
Es gibt auch das umgekehrte Phänomen: Katastrophen-Prognosen, die nicht eintraten. Den Ost-West-Konflikt hat Europa ohne nuklearen Fallout überlebt. Statt einer Apokalypse kam das wunderbare Wendejahr 1989. Europa hat diverse Börsencrashs ohne ökonomischen Meltdown überstanden und das Zeitalter des Terrors bisher ohne Anschläge, die die Gesellschaft außer Tritt brachten.
Und heute? Griechenland unterminiert die Währungsunion. Wladimir Putin bedroht die europäische Friedensordnung. Großbritannien strebt ein Referendum über den Austritt aus der EU an – Ausgang ungewiss. Auch anderswo gewinnen die Gegner europäischer Integration an Zulauf: in Finnland, Schweden, den Niederlanden und Frankreich. Europa reagiert darauf mit dem üblichen Krisenmanagement. Die Fachminister der Währungsunion sprechen über Rettungsstrategien und Hilfspakete. Angela Merkel und François Hollande verhandeln mit Wladimir Putin über einen Waffenstillstand in der Ukraine. Viele reden mit den Briten, wie man ihr Exit abwenden könne.
Manche schlagen als Antwort auf die Zweifel an der Effektivität der EU einfach noch mehr Europa vor
Unter dem Strich bleibt der Eindruck, dass die EU sich in keiner Existenzkrise sieht – oder, falls doch, dem Ernst der Lage nicht gerecht wird. Sie werkelt vor sich hin, behandelt die Probleme wie getrennte Baustellen. Manche schlagen als Antwort auf die Zweifel an der Effektivität der EU einfach noch mehr Europa vor, zum Beispiel eine gemeinsame Armee. Dabei hat genau dieser Reflex die EU-Verdrossenheit verstärkt.
„Ich glaube, dass uns der Laden um die Ohren fliegen kann“, hat EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gerade der „Zeit“ gesagt. So deutliche Worte sind selten. Sie stehen in hartem Kontrast zur provozierenden Selbstsicherheit seiner Interviewer; sie preisen die EU als Weltmacht, die sich angesichts ihres Einflusses nicht mehr darum scheren müsse, was die USA oder Russland denken.
Man muss weder ein Schwarzseher sein noch übertreiben, um für möglich zu halten, dass von Europa, wie wir es kennen und für etwas Gegebenes halten, bald nicht mehr viel übrig ist – nicht in ferner Zukunft, sondern in zwei, drei Jahren.
Das Szenario: Die Griechen scheiden aus der Eurozone aus, weil sie zahlungsunfähig werden, ehe ein Rettungspaket steht. Putin lässt sich durch Abkommen und Sanktionen nicht davon abhalten, mit seiner hybriden Kriegsführung weitere Gebiete zu destabilisieren. Bisher haben EU und Nato keine Antwort gefunden, die ihn abschreckt. Großbritannien verlässt die EU; zunächst gewinnen die Tories die Unterhauswahl am 7. Mai und setzen das versprochene Referendum bis spätestens 2017 an; unter dem Druck der europafeindlichen Ukip können sie sich nicht dazu durchringen, offensiv für den Verbleib in der EU zu werben, am Ende stimmt eine knappe Mehrheit der Briten für den Austritt. Parallel gewinnen die Europagegner unter dem Eindruck der offenkundigen Unfähigkeit der EU, den Frieden, die Stabilität und die Einheit zu wahren, überall noch mehr Zulauf. In Frankreich zieht Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2017 in die Stichwahl ein und peilt dann ihrerseits den EU-Austritt an.
Die EU gäbe es nach all diesen Entwicklungen zwar noch und ebenso die Eurozone. Aber sie würden von Selbstzweifeln erfasst, wären mutlose Zusammenschlüsse, die ihren größten Machtfaktor, ihre Anziehungskraft, verloren hätten.
Ein unplausibles Szenario? Machen wir den Gegentest: Wie wahrscheinlich ist es, dass die Regierung Tsipras zügig die Einsicht und den Mut findet, ihren Wählern zu erklären, dass ihre Wahlversprechen unrealistisch waren – und dass sie Mehrheiten im Parlament organisiert, um die von den Euro-Partnern geforderten Reformen zu verabschieden? Dass Putin seine Politik in der Ukraine ändert und dass er, wenn sich die Wirtschaftskrise zuspitzt, der Versuchung widersteht, die Bürger mit den erprobten Versprechen russischer Größe und weiteren Kriegen um sich zu scharen? Dass die Tories die Unterhauswahl im Mai verlieren und ein Premierminister der Labour-Partei die Briten vom Verbleib in der EU überzeugt? Dass europaweit Entwicklungen eintreten, die die EU-Gegner in die Defensive bringen und die Bürger nach mehr statt weniger EU rufen lassen?
Zudem liegt es bei keiner dieser Schlüsselfragen in der Macht der EU, die Entwicklung zu bestimmen. Ob Griechenland im Euro bleibt oder nicht, hängt von Athens Verhalten ab. Ob Großbritannien aus der EU austritt, von der britischen Innenpolitik. Wie es in der Ukraine weitergeht, ob von Russland gesteuerte Truppen Mariupol angreifen, um die Landbrücke zur Krim zu sichern, ob sie nach Transnistrien vorstoßen und hybride Taktiken im Baltikum anwenden, entscheidet Putin.
Die Mechanismen der EU sind nicht auf Erzwingung gewünschter Ergebnisse angelegt
Die EU ist darauf nicht vorbereitet. Sie ist als freiwilliger Zusammenschluss entstanden. Ihre Mechanismen sind nicht auf Erzwingung gewünschter Ergebnisse angelegt. Sie basiert auf der Annahme, dass alle Beteiligten aus freien Stücken den Gemeinschaftserfolg anstreben. Mächtig erscheint sie nur, solange sie dieses Bild eines gemeinsamen Willens aufrechterhalten kann. Lange lebten die EU-Befürworter von der Autosuggestion, dass man nach den Unterschieden und divergierenden Interessen nicht fragen solle; die würden sich im Zuge der Integration immer weiter abschleifen. Jetzt wird diese Selbstgewissheit herausgefordert. Was in der Ukraine geschieht, nehmen Spanien und Italien nicht so wichtig. Die Ukraine liegt für sie weit weg. Für Polen und Balten hat sie Priorität. Ob Griechenland den Euro gefährdet, muss Spanien und Italien interessieren, nicht aber im selben Maß Polen oder Tschechen, da sie nicht Mitglieder der Eurozone sind. Der Problemdruck legt die Konstruktionsfehler der EU wie der Eurozone schonungslos offen.
Wenn die Lage heute bedrohlicher ist als in früheren Krisen der EU, die immer irgendwie gut geendet haben, wenn Europa tatsächlich vor der Frage steht, ob es in seiner heutigen Form überlebt, dann muss es einer solchen Existenzkrise auch anders als bisher üblich begegnen. Um Robert Schuman, einen der Väter der europäischen Einigung, zu zitieren: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.“ Es gibt ein solches Beispiel in der Geschichte. Es mag manchen schwer vergleichbar erscheinen, weil sich die Zeiten und die Mechanismen politischer Auseinandersetzungen geändert haben. Aber in der Kernfrage bietet es Anschauung, worum es geht: die Haltung, mit der Gesellschaften auf existenzielle Bedrohungen reagieren.
Die EU ist ein junges Staatswesen. Und dazu eines, das etwas Neues ausprobiert: die freiwillige Aufgabe einzelstaatlicher Souveränität im Dienst eines größeren Zusammenschlusses. Beide Kriterien – jung und ein Staatsgebilde bisher unbekannter Art – trafen auch auf die USA in der Ära zwischen ihrer Unabhängigkeitserklärung 1776 und der endgültigen Abwehr der Existenzbedrohung durch den Konflikt mit der britischen Krone zu, die man auf das Jahr 1815 datieren kann. Es galt damals als eher unwahrscheinlich, dass diese „13 Kolonien“ siegen würden. Ein Haufen desorganisierter Pflanzer und Rancher stellte sich gegen die dominierende Weltmacht jener Zeit. Sie mussten eine politische Einheit formen, eine Verfassung verabschieden, eine eigene Währung und ein eigenes Militär aufbauen, um sich zu behaupten. Vor allem mussten sie ihre innere Uneinigkeit überwinden. Das gelang, weil sie wussten, dass es um das Überleben ihrer jungen Staatsform ging. Ihre schöpferische Anstrengung entsprach der Größe der Gefahr. Zudem hatten sie das Glück, dass ihre britischen Gegner nach dem ersten Friedensschluss 1781, den diese noch nicht als endgültig akzeptierten, abgelenkt wurden: durch die Kriege gegen Napoleon um die Dominanz in Europa.
Die „schöpferische Antwort“ reicht nicht an die Größe der Bedrohung heran
Die EU ist ein ähnlich junger Staatenverbund wie die USA damals. Auch sie ringt um innere Einheit, die gemeinsame Währung und erwägt den Aufbau eines gemeinsamen Militärs. Auf den ersten Blick steht sie heute viel besser da als die USA nach 1776. Sie ist längst wer: der größte Wirtschaftsblock der Erde. Zweierlei unterscheidet sie jedoch zu ihren Ungunsten von den damaligen USA. Erstens hat sie sich nicht eingestanden, dass sie existenziell bedroht sein könnte. Zweitens predigt sie zwar gerne, dass ihre neue Staatsorganisation einen historischen Fortschritt darstelle, den es zu verteidigen gelte. Sie scheut aber die Lasten, die nötig wären, um sich zur Selbstbehauptung zu befähigen. So reicht die „schöpferische Antwort“ nicht an die Größe der Bedrohung heran.
Womöglich sind die Bürger klüger, als die Regierenden denken. Sie begreifen instinktiv die Gefahren, die ihre gewählten Vertreter von ihnen fernzuhalten versuchen. Das legen neue Meinungsumfragen in Deutschland nahe. Über 80 Prozent sagen, man könne Russland nicht trauen, es sei kein Partner mehr. Jeder zweite Deutsche möchte die Verteidigungsausgaben erhöhen. Vor einem Jahr wären solche Ergebnisse kaum vorstellbar gewesen. Demokratien reagieren nach aller Erfahrung langsam, ignorant sind sie nicht. Putin hat bei dieser Klärung entscheidend geholfen. Offen ist, ob die Bürger sehen, welchen Schaden die EU durch ein Ausscheiden der Briten erleidet, den Verlust an liberalem Denken und an Wehrhaftigkeit. Einen Rückschlag wie das Scheitern ihrer Verfassung konnte die EU meistern. Sie hatte eine Rückfallposition: Ihre Vertragsgrundlagen blieben unangetastet. Der Schock, wenn die EU ein Schwergewicht wie Großbritannien verlöre oder die Eurozone zurückbauen müsste, ist von anderem Kaliber.
Was zum zweiten Aspekt des Vergleichs mit den frühen USA überleitet: Ist die EU in den Augen ihrer Bürger ein Fortschritt, den sie, wenn es hart auf hart kommt, verteidigen wollen?
Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Diese Überzeugungskraft kann die EU nur entwickeln, wenn sie sichtbar mehr liefert als die Summe der Nationalstaaten: mehr Krisenlösungskompetenz, Gefahrenabwehr, Handlungsfähigkeit. Die EU steht sich mit ihrer Rhetorik selbst im Weg. Sie beschwört ihre „Soft Power“. Dabei fehlt es ihr an „Hard Power“. Sie redet über die weitere Integration, als sei die ein Selbstzweck oder der Endpunkt der Geschichte. Integration ist in Wahrheit die Bedingung dafür, dass die EU effektiver handeln kann. Die EU behauptet viel zu oft, sie sei die Antwort auf Europas Geschichte. Gemessen wird sie jedoch daran, ob sie Lösungen für Gegenwart und Zukunft bietet, von der Währung über die Außenpolitik bis zur Armee.
Die Rührung darüber, dass Franzosen, Polen, Dänen und Niederländer 70 Jahre nach Kriegsende gemeinsame Militäreinheiten mit den Deutschen bilden, reicht nicht als Begründung für deren Aufbau. Entscheidend ist, ob diese Truppen einsetzbar sind und Gegner abschrecken. Einigkeit in der Sanktionspolitik gegenüber Russland ist wichtig. Aber ein Konsens, der nur hält, solange es nicht wehtut, und zerbricht, wenn die Kosten steigen, ist wenig wert. Und eine Währungsunion, die nur funktioniert, solange alle freiwillig die Regeln einhalten, die sich aber scheut, Disziplin zu erzwingen, verliert das Vertrauen der Märkte, also ihren Wert.
Eine „schöpferische Antwort“, die der Größe des Moments gerecht würde, müsste lauten: Die EU-Staaten ringen sich dazu durch, die gemeinsame europäische Selbstbehauptung als ein so überragendes Interesse zu begreifen, dass sie ihre Partikularinteressen diesem Ziel unterordnen. Aber für so viel nationale Selbstbescheidung ist die Existenzkrise wohl noch nicht groß genug.