Kampf der Gerichte: EuGH nimmt Polens Justizreform auseinander – droht gar der „Polexit“?
Nach dem Urteil des EuGH verstößt die Warschauer Disziplinarkammer gegen EU-Recht. Doch das polnische Verfassungsgericht will nichts davon wissen.
Der Streit zwischen der EU und Polen um die umstrittene Justizreform der nationalkonservativen Regierung in Warschau spitzt sich weiter zu. Am Donnerstag urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Polen gegen Unionsrecht verstößt.
Allerdings war das mit Gefolgsleuten der PiS-Regierung besetzte polnische Verfassungsgericht zuvor zu dem Urteil gekommen, dass Anordnungen des EuGH im Streit um die Disziplinarkammer nicht beachtet werden müssen.
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Dies ist der vorläufige Höhepunkt einer rechtlichen Auseinandersetzung um Polens Justizreform, die schon seit Jahren schwelt. Die seit 2015 regierende PiS hatte 2018 die Disziplinarkammer am Obersten Gericht geschaffen, die über die Macht verfügt, Richter und Staatsanwälte zu entlassen. Kritiker sehen darin ein Instrument, um die Gewaltenteilung zwischen Politik und Justiz in Polen auszuhebeln.
Schon im April 2020 hatte der EuGH in einer einstweiligen Anordnung verfügt, die nationalen Bestimmungen über die Zuständigkeiten der Disziplinarkammer unverzüglich auszusetzen. In dem endgültigen Urteil vom Donnerstag kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Disziplinarkammer die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz gefährdet.
Zudem urteilten die Luxemburger Richter, dass durch die Disziplinarordnung Druck auf Richter ausgeübt werden könnte. Außerdem könnten polnische Richter auf Grund drohender Disziplinarverfahren davon abgehalten werden, den Europäischen Gerichtshof anzurufen.
Auf ein Einlenken der polnischen Regierung deutet wenig hin
Das Urteil der Luxemburger Richter ist mit der Verkündung vom Donnerstag rechtskräftig. Allerdings deutet wenig darauf hin, dass Regierungschef Mateusz Morawiecki die Justizreform demnächst wieder zurückdreht.
Denn in dem juristischen Schlagabtausch zwischen Luxemburg und Warschau hatte das polnische Verfassungsgericht zuvor am Mittwoch geurteilt, dass Anordnungen des EuGH zur polnischen Justizreform nicht mit der Verfassung des Landes vereinbar seien.
Zudem hatte Morawiecki selbst im März beim Verfassungsgericht in Warschau grundsätzlich eine Klärung dazu beantragt, ob polnisches oder EU-Recht vorrangig sei. In dieser weit reichenden Frage geht Morawiecki davon aus, dass das Verfassungsgericht den Vorrang des polnischen Rechts feststellen wird. Am Dienstag hatte das Gericht seine Entscheidung vertagt.
EU-Abgeordnete Düpont fordert deutliche Reaktion der Kommission
In den Augen der Europaabgeordneten Lena Düpont (CDU) wäre es eine „zusätzliche Eskalationsstufe“, wenn das Verfassungsgericht in Warschau den Vorrang des polnischen Rechts vor EU-Recht grundsätzlich feststellen würde.
Aber bereits die Warschauer Gerichtsentscheidung vom Mittwoch sei schwerwiegend genug, „weil es um die grundlegende Frage einer unabhängigen Judikative geht“, sagte sie dem Tagesspiegel weiter.
Sie erwarte eine deutliche Antwort der EU-Kommission, so Düpont. Nach ihren Worten müsse das Urteil des Verfassungsgerichts Auswirkungen auf den Rechtsstaatsmechanismus und mögliche Kürzungen von Brüsseler Subventionen sowie das so genannte Artikel-7-Verfahren der EU haben, das theoretisch zum Entzug von Stimmrechten in der Gemeinschaft führen kann.
Ein „Polexit“ ist wenig wahrscheinlich
Regierungskritiker in Polen befürchten, dass das Urteil des Verfassungsgerichts einen Schritt in Richtung „Polexit“ bedeuten könnte – also einen Austritt Polens aus der EU.
Angesichts der hohen Zustimmung der polnischen Bevölkerung zur EU ist ein „Polexit“ allerdings wenig wahrscheinlich. Ende des vergangenen Jahres hatte eine Umfrage im Auftrag der Zeitung „Rzeczpospolita“ zu dem Ergebnis geführt, dass 81 Prozent der Befragten die EU-Mitgliedschaft ihres Landes befürworten.
Ein Artikel-7-Verfahren läuft nicht nur gegen Polen, sondern auch gegen Ungarn. Auch im Verhältnis zwischen Brüssel und Budapest gärt es. Das liegt zum einen an den bislang fehlenden rechtlichen Zusagen, die von der Regierung des Ministerpräsidenten Viktor Orbán vor der Auszahlung der milliardenschweren Corona-Hilfen erwartet werden und zum anderen an deren umstrittenem Homosexualitäts-Gesetz.
Wegen der mutmaßlichen Diskriminierung von nicht heterosexuellen Menschen leitete die Kommission am Donnerstag sowohl gegen Ungarn als auch gegen Polen ein Vertragsverletzungsverfahren ein. In Polen waren im vergangenen Jahr von einigen Kommunen so genannte LGBT-ideologiefreie Zonen eingerichtet worden.