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EU-Parlamentschef Martin Schulz (SPD).
© picture alliance / dpa

Vor dem EU-Gipfel: EU-Parlamentschef Schulz: "Flüchtlingskrise wird uns noch sehr viel mehr kosten"

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, will weiter für eine europäische Lösung in der Flüchtlingskrise kämpfen. Im Interview mit dem Tagesspiegel am Sonntag sagt er: "Die Alternative wäre, dass sich Europa zerlegt."

Herr Schulz, am kommenden Montag steht ein entscheidender EU-Flüchtlingsgipfel mit der Türkei in Brüssel bevor. Wie isoliert ist die deutsche Kanzlerin mit ihrer Position in Europa vor dem Treffen?
Angela Merkel ist sicher in einer schwierigen Position, aber sie ist nicht isoliert. Der Anteil der Staaten steigt, die begreifen, dass die Flüchtlingsbewegungen kein deutsches Problem sind und dass wir zu einer vernünftigen Verteilung von Flüchtlingen in ganz Europa kommen müssen.
Woran machen Sie das fest?
Wir sind mitten in der Vorbereitung des Gipfels und reden mit den Vertretern vieler Länder. Ich sehe Bewegung und kämpfe dafür, dass wir auf dem Gipfel wesentliche Schritte zu einer Lösung des Flüchtlingsproblems in Europa machen können. Mehr Staaten als bislang werden sich beteiligen, wenn wir einen Mix an Maßnahmen vereinbaren.
Sie erwarten trotz der vielen ablehnenden Stimmen, dass sich die Staats- und Regierungschefs aus allen EU-Ländern beim Gipfel auf eine verbindliche Quote von Flüchtlingen verpflichten werden und diese dann auch erfüllen wollen?
Ich rate dringend dazu, dass wir nun endlich das umsetzen, was längst vereinbart wurde – die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen in der EU. Mir ist bewusst, dass damit nicht das Flüchtlingsproblem in seinem ganzen Umfang gelöst ist. Aber wenn wir die Zahl von 160.000 Flüchtlingen bewältigen, können wir politische Bewegung in den Prozess bringen und erhöhen die Chancen auf eine Gesamtlösung ganz erheblich. Wenn wir die Menschen registriert und identifiziert haben und obendrein wissen, welche Länder zu welchem Zeitpunkt wie viele Flüchtlinge aufnehmen werden, könnten wir ganz schnell mit der Umverteilung beginnen.
Faktisch wurden bislang aber nur wenige Hundert Menschen verteilt.
Das ist das Problem. Alle müssten sich an die Vereinbarung halten, aber nichts passiert auf der Grundlage dieses Beschlusses – zumindest nichts Effizientes. Mein Appell lautet, dass sich die Mitgliedsländer der EU endlich wieder an die festen Vereinbarungen halten, die sie selbst getroffen haben. Wir müssen zu einer pragmatischen Umverteilung kommen. Wenn wir 30.000 von den Flüchtlingen, die sich jetzt in Griechenland stauen, verteilen würden, wäre das eine enorme Entlastung für das Land. In einem zunehmenden Maße sind europäische Staaten bereit, aus dem Kreis der 160.000 Flüchtlinge Menschen aufzunehmen. Ich mache es mal ganz praktisch: Wenn Deutschland 40.000, Frankreich 30.000 und Portugal 10.000 Flüchtlinge aufnimmt, dann sind wir insgesamt schon bei 80.000. Die restlichen 80.000 unter den übrigen Mitgliedstaaten zu verteilen, sollte kein Problem darstellen. Nach dem geltenden Verteilungsschlüssel, der neben der Größe auch die Wirtschaftskraft eines Landes berücksichtigt, würde das für Ungarn 1294 Flüchtlinge bedeuten. Und über die will Regierungschef Viktor Orban dann ein Referendum abhalten! Die Botschaft verfängt allmählich, dass die Belastung für die einzelnen Staaten nicht so groß ist, wie die Angstmacher behaupten.

Manche EU-Politiker schlagen vor, dass eine „Koalition der Willigen“ – ohne Orban – das Flüchtlingsproblem lösen soll. Was halten Sie davon?
Ich halte es für sinnvoll, über alternative Szenarien nachzudenken. Wenn viele Staaten nicht mitmachen wollen, warum sollen sich dann nicht diejenigen, an denen das Problem hängenbleibt, besser koordinieren? Wenn wir nicht sicher sein können, dass alle mitarbeiten, dann können wir ja nicht so weitermachen wie bisher.
Hat Bundeskanzlerin Merkel recht, wenn sie die Zusammenarbeit mit der Türkei als Trumpf betrachtet?
Ich setze ebenfalls darauf, dass die EU am Montag mit der Türkei eine Vereinbarung erzielt. Die Türkei muss ihre Küste besser schützen und verhindern, dass Schlepper die Flüchtlinge auf eine ungewisse Reise schicken. In der Türkei können die Flüchtlinge identifiziert und anschließend die besonders Schutzbedürftigen unter ihnen in der EU verteilt werden. Damit könnten wir richtig Bewegung in die Sache bringen.
So lange die Absicherung der EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei nicht funktioniert, landen die Migranten erst einmal in Hellas. Nach der Beinahe-Pleite droht dem Land nun die nächste Krise. Sollen die EU-Partner Griechenland entgegenkommen, indem sie die Sparauflagen lockern, beispielsweise für die Rentenreform?
Man muss zwei Dinge auseinanderhalten. Griechenland muss – ob mit oder ohne Flüchtlingskrise – einerseits die nötigen Reformen durchführen, damit das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine kommt. Aber andererseits ist Griechenland ausgerechnet während der tiefsten wirtschaftlichen und finanziellen Krise des Landes vom Zustrom der Migranten stärker betroffen als jeder andere EU-Staat. Die Flüchtlingskrise führt zu Haushaltsproblemen, und folglich müssen wir uns bei der Anwendung der Defizitkriterien flexibel zeigen. Athen muss unter Umständen auch mehr Zeit bei der Erreichung der Reformziele bekommen. Griechenland braucht Solidarität, dann wird es konstruktiv bei der Lösung des Flüchtlingsproblems mitarbeiten.
Sollte der Internationale Währungsfonds (IWF) als Geldgeber für Griechenland an Bord bleiben?
Ich war nicht derjenige, der den Internationalen Währungsfonds eingeladen hat. Das waren andere. Dass der IWF jetzt über einen Schuldenschnitt für Griechenland redet, ist bestimmt nicht zur Freude derjenigen, die am meisten darauf gedrängt haben, ihn einzuladen.
Die EU-Kommission hat für Staaten wie Griechenland bei der humanitären Hilfe eine Summe von 700 Millionen Euro in Aussicht gestellt. Genügt das?
Das reicht ganz sicher nicht aus. Aber es ist ein erster wichtiger Schritt. Die Flüchtlingskrise wird uns alle noch sehr viel mehr Geld kosten. Aber wenn wir schon bei den Kosten sind: In der Bankenkrise haben wir quasi über Nacht hunderte Milliarden mobilisiert, ohne dass das groß in Frage gestellt wurde. Und jetzt herrscht plötzlich Klein-klein – sowohl auf nationaler als auf auf zwischenstaatlicher Ebene.

Was Schulz über den Streit zwischen Berlin und Wien denkt

Flüchtlinge in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze.
Flüchtlinge in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze.
© dpa

Für Spannung in der EU sorgen insbesondere die gegenseitigen Schuldzuweisungen zwischen Wien und Berlin. Deutschland kritisiert die Ankündigung Österreichs, eine Obergrenze für Flüchtlinge einzuführen. Was ist daran falsch?
Die Debatte über Obergrenzen ist doch eine theoretische, die an der Wirklichkeit scheitern wird. Denn flüchtende Menschen halten sich an keine Obergrenze. Wer eine absolute Zahl in die Welt setzt – von Menschen, die er bereit ist aufzunehmen – muss andere Menschen, die vor der Terrormiliz ’Islamischer Staat’ fliehen und Schutz in Europa suchen, nach Erreichen der Obergrenze zurückschicken. Das wird am Ende keiner tun.
Noch im vergangenen September galt Österreichs Kanzler Werner Faymann als Verbündeter der Merkelschen Flüchtlingspolitik. Wie konnte es zu dem Schwenk kommen?
Österreich hat Enormes geleistet und so lange wie sonst kaum ein anderes Land solidarisch gehandelt und versucht, Flüchtlinge aufzunehmen und zu betreuen, und will nach wie vor eine europäische Lösung. Es ist doch ein starkes Stück, dass jetzt solche EU-Länder Österreich kritisieren, die selbst noch keinen einzigen Flüchtling aufgenommen haben. Unter dem Druck der Verhältnisse hat Österreich seine Haltung geändert. Ich halte gar nichts davon, nun rhetorisch auf ein Land einzuprügeln, das schon Zehntausende aufgenommen hat. Wir müssen den Österreichern sagen, dass wir ihre Lösung für falsch halten und müssen gemeinsam mit ihnen eine andere Lösung erarbeiten.
Könnte man nicht auch umgekehrt sagen, dass Kanzlerin Merkel vom Abschottungs-Kurs Faymanns profitiert, weil inzwischen auch viel weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen?
Die Kanzlerin hat zu Recht signalisiert, dass die Orbans dieser Erde sich irren, wenn sie behaupten, die Flüchtlingskrise sei ein deutsches Problem. Es ist kein deutsches Problem, sondern eine europäische Gemeinschaftsaufgabe.
Nach der Blockade der Balkanroute bereitet Wien die Wiedereinführung dauerhafter Kontrollen an der Grenze zu Italien vor, weil die Flüchtlinge sich neue Routen suchen dürften. Droht bei einer Sperre am Brenner der Kollaps des Schengen-Systems?
Die permanente Schließung von Grenzen können wir uns in Europa nicht leisten. Ich wohne in meinem Heimatort Würselen 1500 Meter Luftlinie von der niederländischen und sieben Kilometer von der belgischen Grenze entfernt. Über die Autobahnen in dieser Region führt der gesamte Gütertransport von zwei der größten Häfen Europas, nämlich Rotterdam und Antwerpen, in viele andere europäische Länder. Wenn Sie da die Grenze schließen, bricht in wichtigen Industriezweigen die Produktion zusammen, weil der Nachschub für die Produktion fehlt, der innerhalb weniger Stunden angeliefert werden muss. Einen solchen Stillstand kann sich niemand in Europa leisten – auch die nicht, die sich jetzt noch laut gegen verbindliche Quoten wehren. Wer glaubt, europäische Staaten könnten dauerhaft wieder Kontrollen einführen, der irrt sich. Gerade jetzt, wo die Wirtschaft in Europa endlich wieder Fuß fasst, hätte das gravierende Konsequenzen.
Wohin man auch schaut in Europa, werden in der Flüchtlingskrise Bruchlinien sichtbar: Österreich schart die Balkan-Staaten um sich, selbst zwischen Deutschland und Frankreich, den engsten Partnern in der Europäischen Union, tun sich Differenzen auf. Wie sehen Sie die Entwicklung?
Ich bin in großer Sorge um Europa. Die Tatsache, dass wir als reichster Kontinent nicht in der Lage sind, eine Million Flüchtlinge unter 507 Millionen Menschen zu verteilen, macht mir größte Sorgen. Erst recht, wenn ich mir anschaue, was andere Nationen leisten. Vergangene Woche hat mich der Präsident des libanesischen Parlaments besucht. Er hat mir gesagt, dass sein Land schon 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. In zehn, 15 Jahren werden Menschen in anderen Teilen der Welt fragen: Was haben die superreichen Europäer eigentlich gemacht, als die Syrer in Not waren? Deshalb werde ich auch weiterhin kämpfen und alles dafür tun, dass wir zu einer Lösung kommen. Die Alternative wäre, dass sich Europa zerlegt über die Verteilung der Flüchtlinge.
Das Gespräch führten Albrecht Meier und Hans Monath.

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