Juncker drosselt Gesetzes-Ausstoß: EU-Beamte in der Sinnkrise
EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker bremst die Brüsseler Gesetzgebungs-Maschinerie. Die Folge: Bei den EU-Beamten, deren Projekte jetzt nicht mehr gefragt sind, herrscht Frust.
Es ist eine ernüchternde erste Bilanz, die Ingeborg Gräßle nach der bisherigen Amtszeit der EU-Kommission unter dem Luxemburger Jean-Claude Juncker zieht. Sie spricht von einzelnen Beamten der EU-Kommission, die in die „innere Emigration“ gegangen seien. In der Schilderung der CDU-Europaabgeordneten zum gegenwärtigen Zustand des Kommissionsapparates taucht auch das Wort „Sinnkrise“ auf, von der einzelne Mitarbeiter des Brüsseler Beamtenapparates betroffen seien. Was ist passiert in diesen ersten 14 Monaten der Juncker-Kommission? Kommt zu den vielen Krisen, welche die EU zu bewältigen hat, noch eine Krise direkt in Brüssel hinzu? Tatsächlich grummelt es im Kommissionsapparat mit seinen insgesamt 35.000 Mitarbeitern. Der Grund dafür ist ein einfacher Satz, den Juncker im September 2014 in Brüssel bei der Vorstellung seines Kommissions-Teams sagte: „Ich meine es ernst, wenn künftig große Dinge groß und kleine Dinge klein gemacht werden sollen.“
"Mehr und mehr Mitarbeiter in der Kommission sind demotiviert"
Der Satz war gewissermaßen ein Arbeitsauftrag für Junckers Stellvertreter Frans Timmermans. Der Niederländer hat in der Kommission die Aufgabe, den Bestand an nutzlosen EU-Regulierungen – eben die „kleinen Dinge“ – zurückzuschneiden. Dafür soll sich die Kommission dann gemäß Junckers Devise umso intensiver um die „großen Dinge“ von der Flüchtlingskrise bis zur Weiterentwicklung der Währungsunion kümmern können.
In der Praxis bedeutet dies, dass Junckers Kommission weniger Vorschläge für neue Gesetze vorlegt als in der Vergangenheit. Die Abgeordnete Gräßle, die den Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments leitet, hat beobachtet, dass Kommissionsleute, deren Arbeitsfelder nicht zu Junckers „großen Dingen“ gehören, gehörig frustriert sind: „Ich sehe, dass mehr und mehr Mitarbeiter in der Kommission demotiviert sind.“ Damit meint sie Beamte, die weiterhin wie in der Vergangenheit fleißig Vorschläge machten, deren Projekte aber neuerdings nicht mehr über das Planungsstadium hinauskommen. Die Regulierungsvorschläge bleiben stecken in dem neuen Flaschenhals, den Timmermans und Junckers deutscher Kabinettschef Martin Selmayr inzwischen in die Gesetzgebungsmaschinerie eingebaut haben.
Haushaltskontrolleurin Gräßle will Kommissarin Georgieva vor Ausschuss laden
Das Problem besteht in den Augen der Brüsseler Haushaltskontrolleurin Gräßle darin, dass der Kommissionsapparat immer noch stark mit dem von Juncker verordneten Umbau beschäftigt ist. Dieser Umbau brachte insgesamt sieben mehr oder weniger mächtige Vizepräsidenten wie Timmermans ins Amt. Zu dieser Notlösung, welche die Bearbeitung identischer Themenfelder durch „einfache“ Kommissare und Vize-Chefs vorsieht, hatte Juncker gegriffen, weil es in Brüssel insgesamt mehr Kommissare als sinnvolle Portfolios gibt. Gräßle sieht im Apparat noch ein zweites Problem, das seinen Ursprung in der Flüchtlingskrise hat: Zwar rückt damit die EU-Innenpolitik innerhalb der Kommission immer mehr in den Fokus, aber dafür fehlt das nötige Personal. Um dies zu ändern, müsste der auf Jahre hinaus festgezurrte EU-Haushalt geändert werden. „Wenn ich Kommissionsleute darauf anspreche, dann zucken sie nur mit den Schultern“, sagt Gräßle.
Nach 14 Monaten mit der neuen Juncker-Kommission möchte die Etatprüferin Gräßle jetzt der Frage nachgehen, was die Kommission mit ihren tausenden Mitarbeitern unterm Strich tatsächlich leistet. Diese Frage will sie Ende Januar der EU-Haushaltskommissarin Kristalina Georgieva stellen, die zu einer Sitzung des Haushaltskontrollausschusses eingeladen ist. Der CDU-Umweltpolitiker Karl-Heinz Florenz hat derweil einen pointierten Vorschlag für eine sinnvolle Beschäftigung der Mitarbeiter im Brüsseler Apparat: „Alle EU-Beamten sollten sich ein Jahr darum kümmern, dass die von ihren ausgearbeiteten Richtlinien in den EU-Mitgliedsländern auch wirklich umgesetzt werden.“
Piraten-Abgeordnete Reda findet Vorschläge im Digital-Bereich "dünn"
Zu den Europaabgeordneten, die sich die Frage stellen, ob die Kommission nicht mehr substanzielle Gesetzgebungsvorlagen liefern könnte, gehört auch Julia Reda. Die Abgeordnete von der Piratenpartei hat sich im EU-Parlament auf Fragen wie das Urheberrecht und die digitale Agenda spezialisiert. Sie findet die bisherigen Vorschläge von EU-Digitalkommissar Günther Oettinger in diesem Bereich „ziemlich dünn“. Als Beispiel nennt sie einen Vorschlag Oettingers vom Dezember für eine neue europäische Verordnung, mit deren Hilfe Nutzer auch im EU-Ausland leichter Zugriff auf Internetdienste wie Musik oder Spiele bekommen sollen. „Das ist weniger, als angekündigt war“, kritisiert Reda.
Der FDP-Abgeordnete Michael Theurer sieht indes die Schuld nicht allein bei der Kommission, wenn es mit Oettingers Digital-Agenda langsamer vorangeht als geplant: „Die Kommission ist eigentlich ambitionierter, aber die Mitgliedstaaten stehen auf der Bremse.“ Theurer ist der Auffassung, dass die Kommission handeln müsse, um den unterschiedlichen nationalstaatlichen Regelungen im Digitalbereich ein Ende zu setzen. „Wir brauchen einen digitalen Binnenmarkt, sonst können wir mit den Amerikanern nicht mithalten“, sagt der FDP-Mann. Ansonsten findet er das Motto Junckers, dass die Kommission weniger Kleinkram regeln soll als in der Vergangenheit, durchaus in Ordnung: „Weniger und bessere Gesetzgebung muss das Ziel sein.“
Weniger Gesetze vom EU-Parlament verabschiedet
Dass aus der Gesetzgebungs-Pipeline der Kommission unter Juncker weniger Nachschub kommt, zeigen Zahlen der Brüsseler Nichtregierungsorganisation „VoteWatch Europe“. 2015, im ersten Jahr der Juncker-Kommission, stimmte das Europaparlament im Rahmen der Mitentscheidung – also dem Gesetzgebungsprozess in Abstimmung mit den Mitgliedstaaten – über 55 EU-Gesetze ab. 2010, im ersten Jahr der letzten EU-Legislaturperiode, waren es noch 64 Gesetze. Untätig wollen die EU-Abgeordneten dennoch nicht bleiben. Charles de Marcilly vom Thinktank „Fondation Robert Schuman“ hat beobachtet, dass sich die Parlamentarier immer mehr darauf verlegen, nicht bindende Resolution – etwa zur Außenpolitik – zu verabschieden. Im EU-Parlament, sagt er, gehe es zunehmend „mehr um die politische Signalwirkung als um echte Gesetzgebungsarbeit“.
Der Text erschien in der "Agenda" vom 12. Januar 2016 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.