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Alt gegen neu: Die Reform für den Geschichtsunterricht kommt bei vielen Lehrern nicht gut an. Andererseits: So wie der bisher läuft, ist er auch nicht erfolgreich.
© Kitty Kleist-Heinrich

Lehrplanreform: Streit um Geschichtsunterricht: Es war einmal

Im Schulfach Geschichte hat der Staat schon immer mitgemischt. Es ging vor allem um Inhalte. Jetzt zielt die Berliner Rahmenlehrplanreform mehr denn je auf die Unterrichtsmethodik – was die Lehrer übel nehmen.

Dass er bis hierhin in seinem Studium arg viel Fachwissen über die Staufer und die Hanse angesammelt hatte, viel zu viel für seinen Bedarf, das war dem jungen Referendar klar, als er sich auf den Weg machte zum ersten Tag seines Praktikums an einer Gesamtschule in Berlin-Wedding. Dass er aber von allem, was praktischerweise für eine gelungene Unterrichtsstunde im Fach Geschichte nötig sein würde, rein gar nichts erfahren hatte, verblüffte ihn.

Der junge Referendar hatte den Klassenraum betreten, und keiner der Schüler hatte davon Notiz genommen. Er hatte gegrüßt, sich vorgestellt und kurz gezögert. Wie man für Ruhe in einem Klassenraum sorgt, und wie man sich gegenüber einer Gruppe großspuriger Jugendlicher, die sich in diesem Raum im Heimvorteil wähnen, Autorität verschafft, hatte ihm an der Universität keiner beigebracht. Weniger noch. Es war nicht mal erwähnt worden, dass es darum als Erstes gehen würde.

Im Weddinger Klassenzimmer entschied an jenem Tag einer der Schüler, wie es weitergehen würde. Er wandte sich an den jungen Referendar und sagte: „Wir geben Ihnen eine Stunde lang ’ne Chance.“

Jeden Schüler erreichen, das wird immer komplizierter

20 Jahre später schreibt Robert Rauh, 47, in der vorvergangenen Woche in einem kühlen Seminarraum Stichpunkte an eine Tafel. Vor ihm sitzen neun Lehramtsstudierende Mitte 20 bis Mitte 30 Jahre alt, es sind Geschichtslehrer von morgen. Sie lernen in ihrem verpflichtenden „Schulpraktischen Seminar“ das Unterrichten. Gerade geht es darum, was „binnendifferenzierte Aufgaben“ ausmacht, die unerlässlich sind in Klassen mit heutzutage oft sehr unterschiedlich lernfähigen Schülern.

Rauh hat sich von den Weddinger Schülern weder erschrecken noch abschrecken lassen. Er hat sich aus den zwei Lehrstilextremen, autoritär-charismatisch und affirmativ-kumpelhaft, einen eigenen entwickelt, der offenbar gut ankommt: 2013 wurde er zum Berliner „Lehrer des Jahres“ gewählt, und bereits seit 2008 bildet er als Fachseminarleiter Junglehrer aus.

Auch Lehrer müssen lernen: wie man lehrt

Also Binnendifferenzierung. „Zielgenau“ müssten die Aufgaben sein, sagt eine Lehramtsstudentin. Rauh fragt „Was heißt das?“ „Der Lerngruppe angemessen.“ „Sie sollen zum Nachdenken anregen.“ „Sie sollen ergänzend sein.“ Genauer? „Jede Lösung trägt zum Gesamtergebnis bei.“ „Und nicht zu stark differenzieren.“ Weil? „Weil dann die Ungleichheit verstärkt wird.“ Fünf Kriterien und ihre Effekte schreibt Rauh mit Kreide an die Tafel, dann geht es in die Gruppenarbeit. Immer zu zweit entwickeln die Studenten nun Fragen zu Französischer Revolution und Vietnamkrieg, die möglichst viele Schüler erreichen.

Wie funktioniert Geschichtsunterricht? In Berlin wird darüber heftig gestritten, seit Ende November 2014 eine umfangreiche Reform der sogenannten Rahmenlehrpläne präsentiert wurde. Den Vorschlägen, die laut Schulverwaltung von 130 Wissenschaftlern und Lehrern in jahrelanger Arbeit erstellt wurden, attestieren andere Lehrer vollkommene Praxisferne und eine grundlegende Entwertung des Fachs Geschichte.

Studien ergeben: Das Wissen nimmt ab

Die Reform sieht vor, dass der Unterricht in den Klassen 5/6 mit Erdkunde und Politik im Sammelfach „Gesellschaftswissenschaften“ aufgeht. In der anschließenden Doppeljahrgangsstufe 7/8 wird „auf der Grundlage von Längsschnitten“ unterrichtet. Das heißt, dass anhand von übergreifenden Themen wie „Arbeit“, „Migration, Flucht und Vertreibung“ oder „Bildung und Erziehung“ drei verschiedene Epochen thematisiert würden. Diese sind laut Reformpapier aber nicht „absolut gesetzt“. In den Klassen 9 und 10 geht es dann chronologisch weiter mit den Ereignissen von 1900 bis ins 20. Jahrhundert – industrielle Revolution, zwei Weltkriege, Wende.

Die Reform-Befürworter sehen „motivatorische Effekte“ und mehr „nachhaltiges Lernen“, weil die Längsschnittthemen in der Gegenwart anknüpfen, die Schüler also abholen, wo sie sind. Außerdem: Bisher werde chronologisch unterrichtet – und mit welchem Ergebnis? Studien zufolge nimmt das geschichtliche Wissen kontinuierlich ab.

Ein unterschätztes Motiv: die pädagogische Ehre

Robert Rauh startete die Onlinepetition und schickte seine Alternativvorschläge für eine Reform an die Bildungsverwaltung. Die wertet über die Osterferien alle eingegangenen Zuschriften aus.
Robert Rauh startete die Onlinepetition und schickte seine Alternativvorschläge für eine Reform an die Bildungsverwaltung. Die wertet über die Osterferien alle eingegangenen Zuschriften aus.
© Susanne Vieth-Entus

Dass sich die staatliche Seite in den Geschichtsunterricht einmischt, ist nichts Neues. Im Gegenteil. Es gehört seit Mitte des 18. Jahrhunderts dazu, seit das Fach, das vor allen anderen das Werden der Schüler zu mündigen Staatsbürger beeinflusst, an die öffentlichen Schulen kam. Doch ging es dabei bisher meist um die Ausrichtung und den Bildungsauftrag: Im „Handbuch für den Geschichtsunterricht an preußischen Volksschulen“ von 1886 wird „die Pflanzung und Befestigung des deutschen Bewusstseins“ als Ziel genannt, weshalb bitte schön die brandenburgische Geschichte nicht ohne Bezüge zum Preußischen thematisiert werden sollte. Die Nationalsozialisten wollten später das ihre, und nach 1945 wurde im Westen Deutschlands die Herausbildung von Demokraten und im Osten die von Sozialisten angestrebt. Jetzt aber hat sich das federführende Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg massiv auf die Form gestürzt: nicht auf das Was, sondern auf das Wie.

Rauh startete unter schul-gerecht.de eine Petition gegen die Reform

Rauh entschied sich nach einigem Zögern, in diesem Streit ein Handelnder zu sein, und startete am 19. Januar unter www.schul-gerecht.de eine Onlinepetition mit dem Titel „Geschichte darf nicht Geschichte werden“.

Alt gegen neu: Die Reform für den Geschichtsunterricht kommt bei vielen Lehrern nicht gut an. Andererseits: So wie der bisher läuft, ist er auch nicht erfolgreich.
Alt gegen neu: Die Reform für den Geschichtsunterricht kommt bei vielen Lehrern nicht gut an. Andererseits: So wie der bisher läuft, ist er auch nicht erfolgreich.
© Kitty Kleist-Heinrich

„Bewusst konstruktiv“, wie er sagt, geht er in der Petitionsbegründung die Reformpunkte unter den Schlagworten „begrüßenswert“ und „problematisch“ durch. „Begrüßenswert“ sei die Idee, für die Klassen 5/6 „die gesellschaftswissenschaftlichen Perspektiven in einem Fach analog dem Fach Naturwissenschaften zu bündeln“, da es inhaltliche Schnittmengen gebe, steht dort etwa, „problematisch“ sei allerdings, dass im neuen Sammelfach die historischen Epochen Ur- und Frühgeschichte, Antike und Mittelalter kaum noch vorkämen. „Begrüßenswert“ am Längsschnittverfahren für die Klassen 7/8 sei „grundsätzlich, dass neben dem chronologisch-genetischen Verfahren auch andere Untersuchungsprinzipien“ vorkämen, „problematisch“ jedoch, dass den Schülern für diese Methode „das historische Basiswissen der einzelnen Epochen fehlt“. Außerdem: Von Schülern, die über die zehnte Klasse hinaus an der Schule bleiben, also den Gymnasiasten, würde in ihren letzten Schuljahren wieder chronologisches Geschichtswissen abgefragt. Aber wenn die das nie gelernt haben?

"Häppchenkultur" versus Epochenverständnis

„Die Vielfalt wird zur Beliebigkeit“, sagt Rauh, auch das ist ein Satz aus seiner Petition. Er fügt an: „Die Schüler sind durch diese Häppchenkultur nicht in der Lage, ein Epochenverständnis zu entwickeln.“ Gleichwohl: „Wir müssen uns von dem Gedanken verabschieden, dass wir alles vermitteln können, von der Frühgeschichte bis zum 11. September.“ Unterricht ist, das wird schnell klar, vor allem ein Ringen mit der gewährten Zeit. Man müsse Schwerpunkte setzen, sagt Rauh. Um das Setzen der richtigen Schwerpunkte dreht sich bereits das „Handbuch des Geschichtsunterrichts“, das in seiner ersten Auflage im Nachkriegsdeutschland herauskam. „So viele Denker über Geschichte, so viele Aspekte von der Geschichte“, heißt es darin. Gerade deshalb sei gut begründete Auswahl vonnöten, mit ihr „steht und fällt das Fach“. Es wird ein chronologisches Vorgehen vorgeschlagen, in der Mittelstufe eher mit nationalem Blick, in der verständigeren Oberstufe mit europa- und weltweitem. Ziel des Unterrichts sei „die Weckung des Willens zum Verstehen anstelle vorschnellen Urteilens“.

"Geschichte polarisiert", sagt er

Vorschnelligkeit ist auch Rauhs Sache nicht. Er wägt ab, was er sagt, macht eher eine wortsuchende Pause, als sich zu ungenauen Übertreibungen hinreißen zu lassen. Er will nicht Rrcht haben, er will Einvernehmen herstellen. Was beim Thema Geschichte durchaus schwierig ist. „Geschichte polarisiert“, hat er festgestellt. Anders als Mathe oder Biologie. Das lässt sich auch bei einer Veranstaltung der CDU-Fraktion am vergangenen Mittwochabend im Abgeordnetenhaus besichtigen. Die Partei, die kleiner Koalitionspartner in Berlins Rotem Rathaus ist, jedoch in der Schulpolitik machtlos, hat eingeladen zum Gedankenaustausch mit Praktikern.

„Schule ist dazu da, dass Schüler etwas wissen!“

Alt gegen neu: Die Reform für den Geschichtsunterricht kommt bei vielen Lehrern nicht gut an. Andererseits: So wie der bisher läuft, ist er auch nicht erfolgreich.
Alt gegen neu: Die Reform für den Geschichtsunterricht kommt bei vielen Lehrern nicht gut an. Andererseits: So wie der bisher läuft, ist er auch nicht erfolgreich.
© Kitty Kleist-Heinrich

Es ist recht voll geworden im prächtig beleuchteten Festsaal. Thema ist die gesamte Lehrplanreform, die fast alle Fächer betrifft, nicht nur den Geschichtsunterricht. Allein die Lateiner seien von Änderungen verschont geblieben, ruft einer und spottet, wahrscheinlich, weil auf das Fach nicht mal die Fachdidaktiker Lust hätten. Leises Gelächter.

Auf dem Podium ganz rechts sitzt Klemens Rinlake, ein Vertreter des Geografenverbands, der um das Fach Erdkunde fürchtet, das ebenfalls im Sammelfach „Gesellschaftswissenschaft“ Gewicht einbüßen werde. „Das Lernen im Raum“ gehe verloren, sagt er, und dass Geografiekenntnisse sich nicht durch „Navi programmieren“ ersetzen ließen. Schon fast verzweifelt schlägt er vor, ein Fach „Romanische Sprache“ zu erfinden, in dem könne man dann Französisch, Spanisch und Latein auf einmal zu unterrichten, die seien sich ja auch ähnlich.

Anschlag auf den Schulfrieden! Luftleerer Raum! Kompetenzgeschwurbel!

Auf der linken Seite polemisiert Hinrich Lühmann, Reinickendorfer Bezirksverordnetenvorsitzender und Oberstudiendirektor a. D., dass es kracht. Die Reform sei ein „Anschlag auf den Schulfrieden“, „im luftleeren Raum“ entstanden, denn er habe als Ziel: die Abschaffung des Gymnasiums zugunsten der Einheitsschule. Lühmann warnt vor den modernen Worthülsen wie „Kompetenz“, dieses ganze „Kompetenzengeschwurbel“! Er verzieht das Gesicht. „Schule ist dazu da, dass Schüler etwas wissen!“ Das findet auch Peter Stolz, der für den Geschichtslehrerverband spricht. Er zitiert den Paragrafen 67 des Berliner Schulgesetzes, in dem von „eigener pädagogischer Verantwortung“ der Lehrkräfte die Rede sei. Wie das bitte gehen soll, „wenn die Unterrichtsmethode vorgegeben ist?“, fragt er.

Mit seinem Protest setzt Stolz die Tradition seines Verbands fort, der eine Reaktion auf die preußischen Lehrpläne von 1892 ist. Laut Homepage sollte denen zufolge der Geschichtsunterricht statt mit dem „Ideal des Humanismus“ mit dem Ziel verbunden werden, die „Ausbreitung sozialistischer und communistischer Ideen“ zu verhindern. Im Gründungspapier heißt es, der Geschichtsunterricht könne „nicht ausschließlich der Verfugung der Verwaltungsbehörden überlassen bleiben“.

Aus dem Publikum kommen immer neue Klagen

Klingt wie für 2015 geschrieben. Stolz bringt einen Volksentscheid ins Spiel. Sollen die Berliner doch abstimmen dürfen, es geht schließlich um ihre Kinder, die künftig nichts mehr mit Sinn und Verstand lernen werden!

Rinlake klagt ähnlich: „Die Geografen hopsen nur noch übern Globus, die Historiker hopsen durch die Zeiten.“ Aus den Zuschauerreihen kommen weitere Aspekte hinzu. In Deutsch würden Filme analysiert, aber keine Romane mehr gelesen! Wie soll man im vorgesehenen achtstufigen Leistungsniveautableau bei inhaltlicher Schwammigkeit eigentlich benoten? Was ist mit den Klassen, in denen 50 Prozent der Schüler verhaltensauffällig sind? Können Schüler bei so wenig vergleichbarem Wissensstand überhaupt noch die Schule wechseln? Ein Lehrer kündigt zivilen Ungehorsam an, er werde dieses Konzept nicht anwenden, er spricht von „wissenschaftlicher Autonomie“ und erhält viel Zustimmung. Die formalen Vorgaben rühren an der Ehre.

Weit weg von der aufgeregten Stimmung im Festsaal ist Robert Rauh in seinem Seminarneubau eine Woche zuvor ähnlicher Ansicht. Die Behörde soll Lerninhalte festlegen, nicht das Unterrichtskonzept. „Das sollen die Lehrer entscheiden.“ Diese Kreativität ist, und das haben die Reformerdenker vielleicht übersehen, das Kernstück der Lehrerarbeit.

Die Schulverwaltung hatte eine Anhörungsfrist ausgerufen, die gestern endete. 3000 Zuschriften sind eingegangen, die würden während der Osterferien ausgewertet, hieß es, und sinnvolle Vorschläge auch berücksichtigt. Eine der 3000 Zuschriften ist von Rauh, der drei alternative Reformvorschläge auflistet, die seit Fristende auf der Petitionsseite nachlesbar sind. Auch von gewerkschaftlicher Seite und aus dem linken politischen Spektrum wird kritische Post eingegangen sein. Dort stört man sich an der mangelnden Beteiligung von Eltern, Schülern und Lehrern.

Auch die jungen Lehrer verändern sich: wissen weniger

Die Referendare sind zurück, zwei präsentieren ihre Aufgaben. Arbeitsmaterial sind zwei Zeitungsartikel zur Französischen Revolution. Die wollen sie getrennt auf die guten und schlechten Schüler verteilen, dann heißt es: „Benennen und belegen Sie die Position des Autors.“ Danach sollen die Schüler wahlweise einen Leserbrief schreiben oder eine Karikatur zu den Briefen erstellen. Kreativität!, das ist gut, finden die anderen, findet auch Rauh, gibt aber zu bedenken, dass man einem Teil der Schüler erst erklären müsste, was ein Leserbrief ist. „Das kostet Zeit, die Sie oft nicht haben.“ Der Kurs verläuft konzentriert und kollegial, die Referendare sind interessiert und liefern mit ihren Unterrichtserfahrungen auch wieder ein Feedback an Rauh zurück.

Das Fazit bleibt: Es kommt auf den Lehrer an

Was dem in den sieben Jahren seiner Fachseminarleiterarbeit aufgefallen ist, lässt sich wie ein weiteres Argument gegen die Reform lesen. Nicht nur die Schüler verändern sich, sondern in der Folge auch die Studenten. Die neuen Junglehrer hätten weniger Fachwissen, mehr Schwierigkeiten in der sprachlichen Darstellung und in der Strukturierung von Inhalten als frühere Jahrgänge, sagt Rauh. Aber: „Sie haben eine klare Vorstellung von ihrem Berufsbild.“ Es sei weniger wissensvermittlerisch als sozialpädagogisch geprägt. Das sei gut, sagt Rauh, denn der richtige Weg, auf Schüler zuzugehen, lasse sich schlecht theoretisch lernen. Das könne man oder nicht.

Und so gilt über alle Zeiten hinweg offenbar eins: Ob Unterricht gut ist oder nicht, liegt am Lehrer – als Mensch.

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