Neue Rahmenpläne: 300 wütende Geschichtslehrer lassen Dampf ab
Die Kritik an den neuen Rahmenlehrpläne reißt nicht ab. Der Lehrer des Jahres, Robert Rauh, unterbreitet drei Gegenvorschläge.
Da flogen die Fetzen: Eine dreistündige Informations- und Diskussionsveranstaltung der Bildungsverwaltung geriet am Montagabend zu einer großen Abrechnung mit den neuen Rahmenlehrplänen für das Fach Geschichte. Von den rund 300 Lehrern, die in die Max-Taut-Schule nach Lichtenberg gekommen waren, gab es fast ausnahmslos kritische Beiträge. Die Stimmung war derart gereizt, dass die Pädagogen sogar verhindern wollten, dass mehrere Referenten die geplanten Neuerungen eingangs erläuterten. Ein Machtwort von Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles (SPD) bewirkte eine vorübergehende Beruhigung.
Und was ist mit dem „Prinzip der Kontroversität“?
Anschließend gewannen aber die Kritiker wieder die Oberhand. Sie bemängelten nicht nur die neuen Rahmenpläne, die für Berlin und Brandenburg gelten sollen, sondern auch den Umgang mit abweichenden Meinungen: Zwar gibt es ein Onlineportal, in dem jeder seine Kritik äußern kann. Zu sehen seien aber nur die positiven Stellungnahmen, bemängelte der Geschichtslehrer Robert Rauh, der auf dem Podium saß. Das verletze „das Prinzip der Kontroversität“. Eine aufgebrachte Lehrerin hatte den Eindruck, dass es sich nur um eine „Alibiveranstaltung“ handele und die Verwaltungen sowieso an ihren Plänen festhalten würden. Diese Vermutung wies Rackles zurück. Die Kritiker bräuchten allerdings „gute Argumente“. Die neuen Rahmenpläne sollen ab 2016/17 in Berlin und Brandenburg für die Klassen eins bis zehn gelten.
Was wird in Geschichte geändert?
In Klasse 7 und 8 soll künftig ausschließlich mit dem Längsschnittverfahren unterrichtet werden. Es geht also nicht chronologisch vom Mittelalter bis zur Industrialisierung, wie es im bisherigen Lehrplan für diese Klassenstufen vorgesehen war, sondern ein Thema, zum Beispiel, Migration, wird in verschiedenen historischen Dimensionen untersucht. Beim Thema Migration, Flucht und Vertreibung könnte es im Unterricht beispielsweise zunächst um die aktuelle Situation der Flüchtlinge in Berlin gehen, dann um die Hugenotten, die Auswanderung von Deutschen in die USA oder um Emigration nach 1933. Mindestens vier solcher Längsschnitte müssen behandelt werden. Obligatorisch sind die Längsschnitte Armut und Reichtum und Migration, Flucht und Vertreibung. Diese beiden Einheiten sollen auch fächerübergreifend mit Geografie und Politischer Bildung unterrichtet werden. Als weitere Längsschnitte stehen zur Auswahl: Der Weg zur modernen Demokratie; Krieg und Frieden; Deutsche und Polen; Juden, Christen und Muslime; Geschlechteridentitäten; ländliche und städtische Lebenswelten; Weltbilder, Bildung und Erziehung; der Mensch in seiner Umwelt; Handel im Wandel. In Klasse neun und zehn geht es dann chronologisch weiter: von der Industrialisierung bis zur Wiedervereinigung.
Eine Petition gegen die neuen Rahmenlehrpläne
Die Inhalte seien zu beliebig, sagt Geschichtslehrer Robert Rauh, der eine Petition gegen die Änderungen initiiert hat. Es könne sein, dass Schüler in die neunte Klasse wechseln, ohne etwas von Französischer Revolution oder Aufklärung gehört zu haben. Welche Zeiten für einen Längsschnitt ausgewählt werden, bleibe den Lehrern selbst überlassen. Eine Referendarin beschreibt in einem Gastbeitrag auf der Homepage der Kritiker, wie schwer es ihr und anderen Lehramtsanwärtern fiel, ein Unterrichtskonzept zum Längsschnitt „Krieg und Frieden“ auszuarbeiten. „Welches aktuelle Ereignis wähle ich? Welcher Krieg muss unbedingt rein? Verzichte ich eher auf die Antike oder das Mittelalter? Die Ergebnisse reichten von der UN-Mission im Kongo über den Peloponnesischen Krieg über den 1. und 2. Weltkrieg.“ Rauh bemängelt zudem: „Es geht nicht, dass den Lehrkräften vorgeschrieben wird, welches Verfahren sie einsetzen. In Klasse sieben und acht dürfen es nur Längsschnitte sein, danach muss es dann wieder chronologisch sein.“ Längsschnitte seien für Oberstufenschüler viel geeigneter als für Kinder und Jugendliche bis Klasse 8.
Welche Vorschläge macht der profilierteste Kritiker?
Robert Rauh, der selbst nicht nur Lehrer und Referendarausbilder sondern auch Autor von Geschichtslehrbüchern ist, schlug bei der Veranstaltung drei Alternativen vor. Der erste Vorschlag sieht als Grundprinzip die Beibehaltung des jetzigen chronologischen Verfahrens mit der Konzentration auf Schwerpunkthemen vor. Längsschnitte kommen dann vorrangig in der Oberstufe zum Einsatz, wie es auch in anderen Bundesländern aktuell praktiziert wird. Der zweite Weg wäre, dass das erste Halbjahr epochal unterrichtet würde und das zweite Halbjahr mit Längsschnitten oder mittels Fallanalysen. Jeder Jahrgangsstufe wäre eine Epoche zugeordnet, z.B. der Klasse 7 das Mittelalter. Der dritte Vorschlag Rauhs läuft darauf hinaus, dass Geschichte, Geographie und Politik vierstündig fachübergreifend unterrichtet würden, ohne die Eigenständigkeit der drei Fächer aufzugeben. Grundprinzip wären gesellschaftswissenschaftlichen Kategorien z.B. „Individuum und Gesellschaft“, „Herrschaft und Partizipation“, „Ökonomie und Ökologie“, „Globalisierung“ oder „Minderheiten und Migration“. Verbindlich müsse aber festgelegt sein, welche Inhalte und Begriffe in jedem Fach bis zum Ende einer Doppeljahrgangsstufe vermittelt werden. Die Fachkonferenzen entscheiden dann zum einen, mit welchen Verfahren ein Thema gelehrt und zweitens welche Schnittstellen im Rahmen einer Kategorie für einen fachübergreifenden Unterricht genutzt werden.
Was sagen die Befürworter?
Der große Vorteil des Längsschnittverfahrens sei die Anbindung an die Lebenswelt der Schüler, sagen Fachdidaktiker. „Schüler lernen direkt und anschaulich, dass Aspekte unserer Gesellschaft in der Vergangenheit anders waren“, sagt Martin Lücke von der Freien Universität Berlin. „Das wenige, was wir empirisch über Geschichtsunterricht wissen, ist, dass der bisherige Ansatz nicht besonders erfolgreich ist.“ Den Vorwurf, dass mit den Längsschnitten kein historisches Basiswissen vermittelt werde, entgegnet er: „Was soll ein solches Basiswissen sein? Mir ist kein einziger Katalog von solchem Basiswissen bekannt, der nicht einseitig eurozentristische und meistens verengt politikgeschichtliche Geschichtsbilder vermittelt.“ Der Widerstand gegen die Pläne sei auch deshalb so groß, weil mit einer Konvention gebrochen werde, die vielen als selbstverständlich und natürlich galt: „Im Kern steckt dahinter ein Geschichtsbild, dass davon ausgeht, dass es ’die Geschichte’ gibt – und dass sich Schüler in dieser Geschichte zu orientieren haben.“ Der neue Entwurf drehe dies um: Geschichte soll den Schülern helfen, sich in ihrer Gegenwart zu orientieren. Einige Kritikpunkte hat aber auch Lücke: Er wäre für Methodenvielfalt, und dass ab Klasse neun wieder chronologisch gearbeitet wird, ist für ihn „alter Wein in alten Schläuchen“.
Was hat es mit dem neuen Fach „Gesellschaftswissenschaften auf sich?
In Klasse 5 und 6 sollen Geschichte, Politische Bildung und Geografie nicht mehr wie bisher blockweise nacheinander, sondern in einem eigenen Fach „Gesellschaftswissenschaften“ unterrichtet werden. Es gibt sechs obligatorische Themenfelder: Ernährung - wie werden Menschen satt?, Wasser - für jedermann?, Stadt und städtische Vielfalt - Gewinn oder ein Problem?, Europa - grenzenlos?, Tourismus und Mobilität – schneller weiter klüger?, Demokratie und Mitbestimmung - Gleichberechtigung für alle? Außerdem gibt es sechs Wahlthemenfelder, zum Beispiel Mode und Konsum, Medien und Religionen. Kritiker bemängeln, dass das Fach Geschichte nahezu verschwindet. Auch Martin Lücke hat Bedenken: „Historisches Lernen in Klasse 5 und 6 wird in der Tat eine Herausforderung.“ Dafür seien unbedingt Fortbildungen für die Lehrer nötig und überzeugendes Unterrichtsmaterial.
Wie geht es jetzt weiter?
Bis Mai soll die Kritik ausgewertet werden. Rackles ließ durchblicken, dass er einige Punkte berechtigt fand, darunter die Kritik daran, dass in den Klassen 9 und 10 der Stoff nicht entschlackt wurde.
Welche Änderungen gibt es noch?
Auch für alle übrigen Fächer bis Klasse 10 gibt es neue Pläne, aber ähnlich heftige Kritik wie bei Geschichte blieb bisher aus. Wohl auch deshalb, weil in Geschichte die Änderungen am deutlichsten sind. Hinzu kommt, dass viele Schulgremien noch nicht dazu gekommen sind, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Es gibt noch viel Aufklärungsbedarf“, sagt Landeselternsprecher Norman Heise.
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