Bei Neuwahlen für den Bundestag: Es könnten noch viel mehr Abgeordnete werden
Das Parlament hat wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten 709 Sitze. Bei einer Neuwahl drohen noch höhere Zahlen. Aber ein kleiner Eingriff im Wahlrecht könnte das dämpfen.
Der Deutsche Bundestag ist am 24. September ziemlich groß geworden. Er hat 709 Abgeordnete, das sind 111 mehr als die gesetzliche Mindestgröße von 598 Sitzen. Die Befürchtungen von Kritikern der Wahlrechtsreform von 2012 traten ein: Dass der Kompromiss, weiterhin Überhangmandate entstehen zu lassen, sie aber durch zusätzliche Sitze auszugleichen, eine massive Vergrößerung des Parlaments bewirken kann.
Die Bundestagsfraktionen wussten 2012, was sie taten. Die Prognosen liefen damals schon auf Zahlen von 700 Sitzen oder auch mehr hinaus. Immerhin: 2013 ist es ganz gut gegangen mit dem unglücklichen Wahlrechtskompromiss. Es gab nur vier auszugleichende Mandate und damit insgesamt 621 Abgeordnete. Auch deswegen verlief die Reform der Reform, deren Notwendigkeit alle Fraktionen erkannt haben, im Sande.
2013 ging es noch gut aus, nun nicht mehr. Wenn es jetzt zu zügigen Neuwahlen kommen sollte, könnten es noch weit mehr Abgeordnete sein, die sich im Rund des Parlaments drängen. Denn zumindest die Umfragen seit der Wahl deuten fast durchgehend auf noch mehr zu vergebende Sitze hin. Die Spanne reicht aktuell von 714 Sitzen nach dem Politbarometer der Forschungsgruppe Wahlen vom vorigen Freitag bis hin zu 785 Sitzen in der neuesten Insa-Umfrage, die am Dienstag veröffentlicht wurde. 14. November. Die aktuellsten Civey-Zahlen laufen auf einen Bundestag mit 773 Sitzen hinaus. Schon zuvor ergab eine Erhebung von Infratest dimap vom 9. November eine Parlamentsgröße von 777 Abgeordneten. Die Basis für die Zahlen ist das Rechenmodell auf der Webseite „Mandatsrechner.de“.
Kernproblem Überhangmandat
Der Grund dafür ist einfach: Union und SPD schneiden in den Umfragen so schwach oder noch schwächer ab als bei der Wahl im September, womit die von ihnen über die Erststimmen gewonnenen Direktmandate nicht mehr in allen Ländern mit genügend Zweitstimmen unterlegt sind, um Überhänge zu vermeiden. Diese entstehen, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Parteienproporz überhaupt an Sitzen zusteht.
Direktmandate werden nach der relativen Mehrheitswahl in den Wahlkreisen vergeben und sind in jedem Fall garantiert – selbst dann, wenn sie mit Ergebnissen unter 35 Prozent errungen werden, die in einem echten Mehrheitswahlsystem in der Regel gar nicht reichen für den Sieg im Wahlkreis. Die so entstehenden Überhänge (so hat es das Bundesverfassungsgericht entschieden) müssen ausgeglichen werden. Daher zogen 46 Überhangmandate (36 der CDU, sieben der CSU und drei der SPD) 65 Ausgleichsmandate nach sich. Ein Ergebnis, das zwar den Parteienproporz gerecht wiedergibt, aber wegen des Zuteilungssystems den föderalen Proporz verzerrt - vor allem zu Lasten von Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, wo gar keine Überhangmandate angefallen sind.
Wird die 800er-Marke geknackt?
Auch wenn 777 Mandate schon eine ziemlich große „Hausnummer“ sind – es könnten auch noch mehr werden. Eine Bundestagsgröße um 800 Abgeordnete ist nicht völlig auszuschließen. Man darf in dem Zusammenhang daran erinnern, dass durchaus seriöse Professoren der Politikwissenschaft die jetzige Größe von 709 Sitzen bei Anhörungen im Bundestag einst als eher unwahrscheinlich bezeichnet hatten. Bei der Wahl im September gingen die Ausgleichsmandate vor allem auf die Überhänge bei der CDU zurück. Die drei Überhänge bei der SPD wurden sozusagen im Vorübergehen in den Ausgleich einbezogen, ebenso die sieben Überhänge der CSU.
Doch hier steckt eines der ganz kritischen Details des jetzigen Wahlrechts – man könnte es als das „bayerische Problem“ bezeichnen. Denn Überhänge der CSU ziehen, wenn sie den Ausgleich bestimmen, deutlich mehr Mandate nach sich als im Fall der CDU oder der SPD. Das liegt daran, dass die CSU als Regionalpartei nur in Bayern antritt und ein bundesweiter Ausgleich einen viel größeren Hebel braucht. Wahlexperten gehen von einem Verhältnis von mindestens eins zu zehn aus.
Hätte die CDU im September deutlich weniger oder gar keine Überhangmandate gehabt, die CSU aber dennoch sieben, wäre die Bundestagsgröße ebenfalls über 700 Sitze gestiegen. Würde die CSU jetzt bei einer Neuwahl wegen ihrer Führungsstreitigkeiten noch mehr schwächeln, könnten die Christsozialen also leicht für einen sehr großen Bundestag verantwortlich sein.
Natürlich gäbe es mehrere Möglichkeiten, mit einer gründlichen Reform aus diesem Schlamassel herauszukommen. Man könnte weniger Direktmandate vergeben, müsste also die Zahl der Wahlkreise verringern. Es könnte zwei Direktmandate statt einem in jedem Wahlkreis geben, deren Zahl müsste dann aber glatt halbiert werden. Oder man probiert es mit einem anderen Modell der personalisierten Verhältniswahl (so der Fachbegriff für die jetzige Verbindung von Mehrheits- und Proportionalwahl), in dem die Sitzgarantie für schwächere Wahlkreissieger entfällt. In allen Fällen wären Riesen-Bundestage nicht mehr möglich.
Splitting treibt Mandatszahl nach oben
Aber in der kurzen Zeit bis zu einer neuerlichen Wahl wird der Bundestag kaum in einem regulären Gesetzgebungsverfahren ein neues Wahlrecht zustande bringen. Dafür sollte sich ein Parlament auch viel Zeit nehmen, erst recht dann, wenn das Ziel der Konsens aller Fraktionen ist, das Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) in seiner ersten Rede im Oktober vorgegeben hat. Allenfalls eine kleine, aber dennoch effektive Korrektur wäre vielleicht möglich: die Einführung des Einstimmensystems.
Derzeit haben die Wähler zwei Stimmen, eine für die Bestimmung des Direktmandats im Wahlkreis, eine für die Landesliste der Parteien (sie ist die entscheidende für die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag). Dadurch wird Stimmensplitting möglich, was die Entstehung von Überhangmandaten fördern kann. Bei der Wahl im September dürfte Splitting zwischen Union und FDP die Vergrößerung des Bundestags befördert haben – denn die Erstimmenergebnisse der CDU und der CSU lagen deutlich über den Zweitstimmenergebnissen. Bei der FDP war es umgekehrt. Sehr deutlich war dieses Splitting-Verhalten in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Bayern und Baden-Württemberg. Im Osten wird generell weniger gesplittet. Mit nur einer Stimme, die für den Wahlkreis wie für die Parteiliste gleichermaßen gezählt wird, ist Splitting nicht möglich – die Parlamentsvergrößerung könnte so zumindest etwas gedämpft werden. Matthias Moehl vom Hamburger Wahlinformationsdienst „election.de“ hat für den Tagesspiegel eine vorsichtige Simulationsrechnung auf der Basis der Ergebnisse vom September gemacht. Unter der Annahme, dass die bei der jetzigen Wahl vergebene Erststimme die Basiswahlentscheidung für eine Partei ist, die bei einem Einstimmensystem relevant wäre, käme eine deutlich reduzierte Zahl von 26 Überhangmandaten für die CDU/CSU heraus (gegenüber 43 tatsächlich). Bei der SPD wäre es noch eines (statt drei). „Damit läge die Gesamtzahl der Sitze im Bundestag bei 673 statt 709“, sagt Moehl. „In der Realität liegt der Wert vermutlich dazwischen, weil einige Splitting-Wähler sich auch für die Partei entscheiden, die sie bisher mit der Zweitstimme wählten.“