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Haim Gertner leitet das Archiv von Yad Vashem.
© Georg Ismar

Archivdirektor von Yad Vashem: „Es ist ein riesiges Puzzle“

Der Archivdirektor von Yad Vashem, Haim Gertner, über seinen Plan, auch ohne noch lebende Zeitzeugen die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten.

Herr Gertner, was ist derzeit die größte Herausforderung in Ihrer Arbeit?

Wir müssen weltweit die Beweise, Nachlässe und Zeugnisse sichern. Es ist ja so, dass die Nazis nicht nur die Juden ermordet, sondern auch ihr Gedächtnis, Erinnerungen an sie zerstört haben. Yad Vashem hat eine sehr, sehr ehrgeizige Mission, alle Beweise an einem Ort zu sammeln. Es ist ein riesiges Puzzle mit vielen unbekannten Teilen. Wir waren in den vergangenen Jahrzehnten sehr erfolgreich. Wir haben heute in Yad Vashem 210 Millionen Seiten an Dokumenten.

Welche Art von Dokumenten?

Vieles sind Dokumente und Akten, die von den Tätern in Europa erstellt wurden. Aber es gibt eine kleinere Anzahl, vielleicht sogar noch wichtiger: Das sind Quellen über die Opfer, die über ihr Leben erzählen. Wir kombinieren hier beides. In vielen Fällen haben wir Schwierigkeiten, sie zu bekommen, weil sie verloren gingen. Heute ist auch die Frage, wie nutzen wir neue Technologien im Dienste des kollektiven Gedächtnisses, um die Erinnerungen an die Opfer zu bewahren. Und eine besonders wichtige Frage lautet: Was machen wir im Zeitalter ohne noch lebende Überlebende?

Für mich waren dies die eindrücklichsten Erinnerungen aus meiner Schulzeit. Wie wollen Sie künftig jungen Menschen den NS-Horror näherbringen, wenn die so wichtigen persönlichen Begegnungen mit Überlebenden fehlen?

Ich denke, das ist weltweit eine große Frage. In Israel und in Europa, in jüdischen Zirkeln, in nichtjüdischen Zirkeln genauso. Wir müssen zuerst alle Beweise, die wir haben, dokumentieren. Und wir nehmen die Lebensberichte der Überlebenden auf Video auf. Im Schnitt sind das derzeit zehn am Tag, wir gehen zu ihnen nach Hause und machen zwei bis drei Stunden lange Videos. Wir haben heute 133.000 Zeitzeugenberichte, schriftlich und per Video. 40 Prozent wurden von Yad Vashem organisiert, 60 Prozent von anderen Institutionen, die uns Kopien zur Verfügung gestellt haben. Das hört sich nach viel an, ist es aber nicht. Das sind nur zehn Prozent der Zeitzeugen, die wir allein in Israel haben und hatten. Wir müssen möglichst vielen von ihnen dauerhaft eine Stimme geben. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.

Daneben liegt ein Fokus auch auf der Dokumentation mit Fotos der Opfer, wie weit sind Sie dabei?
Von den sechs Millionen Opfern hatten wir zunächst nur rund 200 000 Fotos. Mit einer nationalen Kampagne, die wir vor neun Jahren gestartet haben, haben wir Dokumente öffentlich gesucht. So haben wir nun rund 100 000 mehr, über 300 000 Fotos von Opfern. Wir suchen weltweit weiter, scannen auch weltweit Dokumente, um Yad Vashem als Ort des kollektiven Gedächtnisses zu stärken. Es ist eine Arbeit, die so schnell nicht enden wird. Wir sind es den Opfern, ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln schuldig.

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