Was Kritik aus Brüssel für Orbán bedeutet: „Es gibt Länder, die das System der EU aushöhlen wollen“
Immer wieder stellt sich Ungarns Regierung gegen die EU-Kommission. Jetzt soll es mehr Druck aus Brüssel geben. Doch was kommt davon im Land selber an?
Der CSU-Politiker Manfred Weber hat schon lange genug. Zum Jahresanfang forderte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei im Europaparlament erneut, man müsse rasch über den Rauswurf der ungarischen Regierungspartei Fidesz entscheiden.
Hintergrund ist der Dauerstreit des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán mit Brüssel unter anderem über die Rechtstaatlichkeit.
In einem Tagesspiegel-Interview hatte Věra Jourová, die Vizepräsidentin der EU-Kommission, zum Jahresende angekündigt, man wolle sich schon Anfang 2021 mit Polen und Ungarn befassen. Gegen beide Länder laufen Verfahren wegen des Bruchs der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.
Alles ist ein Freiheitskampf
Die ungarische Regierung unter Viktor Orbán gab sich bisher immer unbeeindruckt, wenn Brüssel Druck ausübte. „Wir sind es ja gewohnt in Ungarn, dass die Regierung alles als Freiheitskampf sieht“, sagt Melani Barlai, Politikwissenschaftlerin an der Andrássy-Universität in Budapest.
Im Zoom-Gespräch sagt sie, Orbán und seine Minister würden ihre Freiheitskämpfe gerne auf der EU-Bühne austragen. Also sei natürlich auch der im letzten Jahr erzielte Kompromiss um den EU-Haushalt als Gewinn verkauft worden, wie alles, was in Brüssel passiert.
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Als „Sieg der Vernunft“ bezeichnete Orbán die Verordnung in einem in der „Welt“ erschienenen Interview. Statt einem „Rechtsstaatsmechanismus ohne objektive Kriterien“ könne man nun über „verbindliche Kriterien“, die für alle 27 Länder gelten sollen, weiterverhandeln, so der Regierungschef.
„Es gibt Länder, die das System der Europäischen Union aushöhlen wollen – entgegen aller Pläne, mit denen die EU gegründet worden ist“, sagt Barlai. Sie ist Expertin des politischen Systems in Ungarn. An der Universität Tübingen promovierte sie zu den gesellschaftlichen Konfliktlinien in der ungarischen Gesellschaft. Mit der Nichtregierungsorganisation „Unhack Democracy“ setzt sie sich für die Aufklärung von Wahlbetrug besonders in den ländlichen Regionen Ungarns ein.
Wenig Effekt auf die Innenpolitik
Orbán gewinnt mit dem Budget-Kompromiss Zeit. 2022 wird er sich wieder zur Wahl stellen. Ein mögliches Verfahren vor dem EuGH könnte sich, selbst wenn die EU rasch handeln würde, so lange ziehen.
Die Frage ist aber auch, wie sehr sich die Entwicklungen in Brüssel überhaupt auf die ungarische Innenpolitik auswirken. Barlai sagt: „Eher wenig.“ Ob Gelder zurückgezahlt werden müssten, sei fraglich.
Korruption, auch im Zusammenhang mit EU-Geldern, würde in Ungarn eher toleriert und hingenommen. „Ich denke, der jetzt vereinbarte Rechtsstaats-Mechanismus reicht sicherlich nicht aus, um innenpolitisch etwas zu verändern“, sagt Barlai.
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Wie wenig sich Geschehnisse in Brüssel auf die Innenpolitik auswirken, zeigt der Fall József Szájer, Europapolitiker und Fidesz-Gründungsmitglied. Anfang Dezember wurde Szájer bei einer Sex-Party von Homosexuellen in Brüssel erwischt, die wegen Verstoß gegen die belgischen Corona-Maßnahmen von der Polizei aufgelöst wurde. Szájer hat seitdem sein Mandat abgegeben und ist aus der Fidesz-Partei ausgetreten.
In Ungarn verurteilte seine Partei die Aktion scharf, doch die Neigungen des Politikers, die Fidesz‘ konservativen Weltbild widersprechen, waren bekannt. Ihre Wähler haben sie dafür dennoch nicht bestraft.
„Wer kennt schon Szájer in Ungarn?“, sagt Barlai lachend. Also, zumindest nicht die Kernwählerschaft von Fidesz in ländlicheren Regionen. Bei denen komme nur die Message der Regierung an, nämlich: „Wir haben eine starke Parteiführung, die sagt, wir dulden das einfach nicht.“
Wahlbetrug mit System
Auf die Kernwählerschaft, die Barlai auf 2-2.5 Millionen Menschen schätzt, können Orbán und seine Fidesz-Partei weiter vertrauen. Den ländlichen Regionen kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu.
Barlai untersucht seit 2018 mit „Unhack Democracy“ Wahlbetrug. Nach Interviews mit über 1000 Wahlhelfern stellt sie systematische Muster fest. Stimmenkauf, Bustouren für Wähler, Fälschungen in Wählerlisten und Wahlmanipulation in Altersheimen: Alle Mittel seien recht, sagt Barlai.
Das sei in der Provinz wegen starker Abhängigkeitsverhältnisse besonders erfolgreich, aber es komme auch in Budapest vor. Viele Wahlhelfer, die sie interviewte, hätten gar nicht gewusst was illegal sei, oder sie hätten nicht gewagt, das im offiziellen Protokoll zu vermerken.
Deshalb arbeitet Barlai daran, dass in der EU mehr über Wahlbetrug gesprochen wird. Im Herbst 2021 organisiert „Unhack Democracy“ eine internationale Konferenz zu diesem Thema in Berlin.