Türkei: Demonstranten richten sich im Gezi-Park ein: Es gibt eine Bibliothek und Yogastunden
Im Gezi-Park wissen sie, dass sie nicht für die Mehrheit stehen. Doch: „Das Klima in der Türkei hat sich verändert“, sagt eine Besetzerin. Längst geht es nicht mehr nur um ein Bauprojekt, sondern um Erdogans Regierungsstil und den Aufbruch in eine post-autoritäre Demokratie.
Als der Lautsprecher krächzt, schaut Abbas Erdem erschrocken hoch, seine Gasmaske liegt griffbereit. Doch die Durchsage gilt nur einem Elternpaar, das sein Kind abholen soll, es ist nicht die Ankündigung des allseits erwarteten Polizeiangriffs. Abbas Erdem entspannt sich.
Seit einer Woche zeltet der 37-Jährige im Gezi-Park im Zentrum der türkischen Metropole, zusammen mit mehreren tausend anderen Menschen. Ursprünglich hatten sie gegen die Baupläne der Regierung für das baumbestandene Gelände demonstrieren wollen. Doch längst geht es gegen die Regierung an sich. Draußen vor dem Park warten die Polizisten unter roten Sonnenschirmen auf den Einsatzbefehl. Ein halbes Dutzend Wasserwerfer steht bereit. Am Eingang zum Park verkauft ein fliegender Händler Bauhelme und Taucherbrillen – zum Schutz gegen Tränengas und Polizeiknüppel. Die Geschäfte gehen gut.
Dass der Angriff kommen wird, dass die Polizei mit einem Großaufgebot, mit Wasserkanonen und Tränengasschwaden die Besetzung des Gezi-Parks beenden und die mehreren hundert Zelte abreißen wird, damit rechnet jeder hier. Aber für Erdem ist das eigentlich schon abgehakt, nicht mehr wichtig. „Die Leute haben die Vergangenheit überwunden und angefangen, Fragen zu stellen“, sagt er. „So etwas ist noch nie passiert in meinem Land. Darauf bin ich stolz.“
Die ersten zwei Juniwochen haben die Türkei verändert. Rund um den Taksim-Platz hat sich eine breite Koalition formiert. Kommunisten, nationalistische Atatürk-Anhänger und reformorientierte Islamisten wehren sich gemeinsam gegen ein Bauprojekt. Was sie darüber hinaus verbindet, ist der als autoritär empfundene Regierungsstil von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Obwohl die Türkei schon viele innere Konflikte erlebt hat. So etwas noch nicht.
Erdogan fordert die Demonstranten im Park am Donnerstag ein weiteres Mal auf, ihre Besetzung aufzugeben. „Ich warne euch das letzte Mal.“ Das sind seine Worte.
Noch vor zwei Wochen hatte Erdogan erklärt, die Demonstranten könnten die Wiedererrichtung eines osmanischen Kasernengebäudes auf dem Parkgelände nicht verhindern. „Unsere Entscheidung ist gefallen“, hatte er damals gesagt. Und selbstsicher gibt er sich auch heute, nachdem er gestern allerdings ein Referendum über die Zukunft des Parks vorgeschlagen hatte, also jetzt den Wähler entscheiden lassen will.
Im Park geht trotzdem niemand nach Hause. Die Demonstranten sehen sich bestärkt. Den mächtigsten Politiker der Türkei seit Jahrzehnten haben sie zu einem Kompromissangebot gezwungen. Ist das nichts? Und sie wollen mehr. Sie verlangen die Freilassung aller, die in den letzten zwei Wochen bei Protestkundgebungen im Land festgenommen wurden. Sie fordern die Entlassung aller Beamten, die für die brutalen Polizeieinsätze verantwortlich waren. Sie wollen sogar ein gesetzliches Verbot von Tränengas durchsetzen. Sie wissen, dass Erdogan ihre Forderungen ablehnen wird. Es ist ihnen egal.
Vielleicht muss es ihnen das auch sein. „Jeder will was anderes“, sagt einer. Nicht mal in der Frage, ob die Demonstranten der Gewalt der Polizei mehr als nur passiven Widerstand entgegensetzen sollen, herrscht Einigkeit. Die einen wollen sich wehren, die anderen wollen nicht. Doch treten diese Differenzen in den Hintergrund angesichts des Gefühls, gemeinsam für den Park zu kämpfen und gemeinsam die Tränengasgeschosse der Polizei zu erdulden, die in einer Nacht bis drei Uhr früh auf die Zeltstadt niederprasselten. Aufgeben will niemand hier.
Am Tag nach Erdogans Plebiszit-Offerte ist nicht zu erkennen, dass die Zahl der Zelte abnimmt. Die Demonstranten, vorwiegend Studenten, Berufseinsteiger, Jugendliche, liegen vor ihren Zelten im Gras oder auf Decken, lesen Zeitung oder spielen Volleyball. Ältere Istanbuler streifen mit einem seligen Lächeln durch diese Stadt in der Stadt und versorgen deren Bewohner mit Lebensmitteln.
Im Gezi-Park gibt es eine Bibliothek und Yogakurse
„Es kommt immer mehr hier an“, sagte ein Mann an einer Annahmestelle für Lebensmittelspenden im Park. Er sortiert Wasser, Milch, Saft, Brot, Gebäck, Obst, Einwegbesteck – und ein paar Gasmasken. Auch Medikamente werden geliefert und in Lazarettzelten bereitgehalten. Lieferdienste melden, selbst aus Australien sei über Internet eine Ladung Pizza für die Park-Leute bestellt worden.
Im Park gibt es eine Bibliothek und Yogakurse, Jurastudenten bieten Rechtsbeistand an, einige Aktivisten sammeln den Müll ein. Vereinzelt kommen Touristen in den Park und schießen Erinnerungsfotos von der Barrikade am Eingang oder vor den bunten Plakaten. Die Zeltstadt im Gezi-Park ist eine Mischung aus Heerlager und Campingplatz.
In anderen Teilen Istanbuls geht das Leben seinen gewohnten Gang, aber auch fernab bekunden viele jeden Abend ihre Unterstützung für die Demonstranten und schlagen lautstark Töpfe und Pfannen gegeneinander, um die Regierung Erdogan aufzuwecken. Sie wenden sich nicht nur gegen Erdogans Pläne für den Park, sondern auch gegen das neue restriktive Alkohol-Gesetz und gegen Erdogans ehrgeiziges Infrastrukturprogramm, das den Leuten den Eindruck vermittelt, es werde alles zubetoniert. Sie haben genug von Erdogans Selbstherrlichkeit und seinem Hang, in alle möglichen Lebensbereiche einzugreifen. Der Premier verfolgt seine Landsleute mit seinen Ansichten bis ins Schlafzimmer und fordert mindestens drei Kinder pro Familie.
Doch bei allem Zuspruch wissen die Demonstranten im Park sehr gut, dass sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren. Bei der letzten Wahl vor zwei Jahren heimste Erdogans AKP fast 50 Prozent der Stimmen ein, doppelt so viel wie die zweitstärkste Partei. Erdogan habe das Referendum nur deshalb ins Spiel gebracht, weil er wisse, dass er die Mehrheit in Istanbul – wie in der ganzen Türkei – hinter sich habe, sagt die Studentin Sera Avidor, die seit knapp zwei Wochen im Park lebt.
Özde Celikbilek, 21 Jahre alt und Mitglied in einem Studentenkollektiv, ist noch länger hier, schon seit dem 27. Mai. Sie hat den ersten brutalen Polizeieinsatz miterlebt, der die landesweiten Proteste auslöste. Im Morgengrauen des 31. Mai wollten die Beamten die damals noch kleine Gruppe von Umweltschützern mit Gewalt aus dem Park vertreiben. Über Twitter und Facebook verbreitete sich die Nachricht schnell, bald wuchs sich der kleine Widerstand zur Straßenschlacht aus.
Seitdem ist der Park in der Hand von Aktivisten wie Özde. „Meine Eltern unterstützen mich, haben aber auch Angst, dass mir etwas zustoßen könnte“, sagt die zart gebaute Studentin. Aus ihrem Blick spricht der Stolz auf das Erreichte. „Die AKP kann ab sofort nicht mehr machen, was sie will“, sagt sie. „Das Volk ist da.“
Ein Hauch von Revolutionsromantik und 1968 liegt über dem Zeltlager. „Erst gestern habe ich wieder eine Prüfung in der Uni verpasst“, sagt der Student Taylan Miron fröhlich. „Dafür haben wir was anderes gelernt“, lacht seine Freundin. „Zum Beispiel wissen wir jetzt, wie Tränengas schmeckt.“
Ganze Generationen von Türken sind als Untertanen erzogen worden, besonders nach dem Militärputsch von 1980. Ein landesweites Aufbegehren junger Leute gegen die Obrigkeit hat es seitdem nicht gegeben. Der Kurdenaufstand ist für die Leute im Park weit weg. Die Unruhen im Istanbuler Kurdenviertel Gaziosmanpasa, die sich in den vergangenen Tagen parallel zu den Spannungen im Gezi-Park abspielten, lassen die Demonstranten im Park kalt. Das ist ein ethnisches Problem. Nicht ihres.
Es geht um eine gesamttürkische Neudefinition dessen, was es heißt, Staatsbürger zu sein, schreibt die Soziologin Nilüfer Göle. Wie 1968 die Studenten in Europa auf die Straße gingen, so entdecken die jungen Türken im Sommer 2013, wie es sich anfühlt, gegen Polizei, Behörden und die konservativeren Teile der Bevölkerung auf die Barrikaden zu steigen. Jeder zweite Demonstrant im Park nimmt nach einer Umfrage zum ersten Mal in seinem Leben an einer politischen Aktion teil.
Erstmals sprach Erdogan mit Menschen, die der Protestbewegung nahe stehen
Darunter ist auch Berkay Ersan. Der 22-Jährige sieht aus wie der Traum aller Schwiegermütter, nett, gepflegt, zurückhaltend. Doch die letzten zwei Wochen haben auch ihn verändert. „Ich hatte nie was mit Politik am Hut, und jetzt komme ich jeden Tag hierher, um zu demonstrieren.“
Und die Polizei? Ersan zuckt mit den Schultern. Klar werde der Angriff kommen, sagt er. Der Regierung glaube er kein Wort, deshalb ist auch Erdogans Idee der Volksabstimmung nichts für ihn.
„Das Klima in der Türkei hat sich geändert“, sagt Fatma Okan, 50, freiwillige Helferin eines Vereins, der seit langem für die Erhaltung des Parks kämpft. „Es gab immer diese Mauer von Angst, und die ist jetzt weg.“
Ministerpräsident Erdogan weiß nicht so recht, was er mit der furchtlosen Protestbewegung anfangen soll. Zuerst beschimpfte er die Demonstranten als „Capulcular“ – „Plünderer“. Doch dann musste er mit ansehen, wie die Protestbewegung die Beleidigung kurzerhand zur Ehrenbezeichnung umdeutete. Sich „Capulcu“ zu nennen, bedeutet inzwischen, Erdogan die Stirn zu bieten, sich der Kontrolle des Staates zu entziehen.
Das greift nun auch auf die Medien über. Als die großen Nachrichtensender in den ersten Tagen des Aufstandes über die Unruhen kaum berichteten, stiegen Millionen von Türken auf Internet, Twitter und Facebook um.
„Jetzt wissen die Leute, dass es auch etwas anderes gibt als die staatliche Manipulation“, sagt Murat, ein Dokumentarfilmer. Der improvisierte Internet-Fernsehsender der Demonstranten im Park heißt „Capul TV“.
Diese Woche traf sich Erdogan dann zum ersten Mal mit eine Gruppe von Leuten, die der Protestbewegung nahestehen. In dem fast fünfstündigen Gespräch wirkte der Ministerpräsident nicht ruppig und barsch wie meist bei den öffentlichen Auftritten der letzten Wochen, sondern ruhig und konzentriert, sagten Teilnehmer. Anschließend ließ er das Angebot eines Referendums und die Drohung verbreiten, das Zeltlager zu erstürmen.
Unter den Bäumen laufen die Vorbereitungen auf die erwartete Attacke. Mehrere Dutzend halb gefüllte Wasserbehälter sind im Park verteilt – dort werden im Ernstfall Tränengaspatronen der Polizei hineingeworfen, um sie unschädlich zu machen. An einigen Tischen steht Milch bereit, die von den Demonstranten benutzt wird, um nach einem Tränengasangriff der Polizei die Augen auszuwaschen.
Vor zwei Wochen, sagt Student Nazim, da hätte er sich ja noch mit dem Vorschlag eines Referendums anfreunden könne. „Jetzt ist es zu spät.“ Nun wartet er auf die Polizei. „Sie werden kommen“, sagt er. „Aber wir bleiben hier.“
Thomas Seibert