Flüchtlinge zwischen Türkei und EU: Es geht um Millionen
Die Türkei soll Schlepper bekämpfen und ihre Grenzen sichern, die EU bezahlt – finanziell und politisch. Was haben Ankara und Brüssel vereinbart?
Der Appell an die europäischen Staats- und Regierungschefs aus dem Silivri-Gefängnis in der Türkei war dramatisch. Sie hofften auf gute Beschlüsse, um der „herzzerreißenden“ Flüchtlingskrise Herr zu werden, schrieben Can Dündar und Erdem Gül im Namen aller in der Türkei verhafteten Journalisten unter anderem an Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Wir hoffen aber auch, dass die bestmögliche Lösung für die Flüchtlingskrise Sie nicht daran hindern wird, weiterhin die westlichen Werte wie Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit hoch zu halten und sie zu verteidigen.“ Die Aussichten, dass das undemokratische Vorgehen gegen Regierungskritiker beim Treffen mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu in Brüssel eine zentrale Rolle spielen würden, waren jedoch schon vor dessen Beginn ziemlich mau. Diese Frage sei „Teil des politischen Dialogs mit der Türkei“, hieß es vorab in deutschen Regierungskreisen, doch man „glaube nicht, dass das Treffen mit 28 Ländern und der Türkei der richtige Ort dafür ist“. Merkel räumte nach dem EU-Gipfel mit Premier Ahmet Davutoglu in Brüssel ein, dass dafür kaum Zeit gewesen sei, doch biete die Annäherung an Ankara auch diesbezüglich neue Chancen: „Wenn man nicht miteinander redet, kann man auch die Kritik bestenfalls über die Medien äußern - aber das führt meistens noch zu keiner Problemlösung.“
Was soll das Treffen bringen?
„Unser Hauptziel ist, den Strom der Flüchtlinge einzudämmen“, sagte Ratspräsident Tusk zum Auftakt des Treffens, bei dem ein EU-Türkei-Aktionsplan in Kraft gesetzt wurde, den die Brüsseler Kommission in den vergangenen Wochen mit der Regierung in Ankara ausverhandelt hatte. Darin verpflichtet sich die Türkei zu einer besseren Grenzsicherung, etwa durch mehr Patrouillen auf See in Abstimmung mit der griechischen Küstenwache. „Beide Seiten werden mit sofortiger Wirkung ihre Kooperation hinsichtlich jener Migranten verstärken, die keinen internationalen Schutz benötigen“, heißt es in der Abschlusserklärung des Gipfels, „und Bewegungen in die Türkei und die EU verhindern.“ Ankara hat beispielsweise zugesagt, bis nächsten Sommer den zweiten Teil eines bereits existierenden Rückübernahmeabkommens umzusetzen und dann auch über die Türkei eingereiste und in der EU abgelehnte Asylbewerber aufzunehmen – bisher hat das Land nur eigene Staatsangehörige wieder zurückgenommen.
Zusammen wird den Schlepperbanden der Kampf angesagt. Das geschieht etwa durch mehr Informationsaustausch mit den Botschaften in der Türkei sowie der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Bessere Lebensbedingungen für die weit mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei sollen zudem dazu führen, dass sie erst gar nicht mehr die Notwendigkeit sehen wegzugehen. „Bei vielen Flüchtlingen in der Türkei liegt die Flucht aus Syrien nun schon ein paar Jahre zurück“, hat kürzlich Sema Genel von der Istanbuler Hilfsorganisation „Support to Life“ in Brüssel berichtet, „sie suchen jetzt nicht mehr nur Schutz, sondern eine neue Lebensperspektive.“ Der Aktionsplan verpflichtet die Türkei daher, den Flüchtlingen die Arbeitsaufnahme zu erlauben, Zugang zum Gesundheitssystem zu gewähren sowie ihren Kindern Schulunterricht anzubieten.
Was bekommt die Türkei im Gegenzug?
Da sie bisher nur wenig internationale Hilfe bei der Versorgung der Flüchtlinge erhalten habe, verlange die Türkei nun finanzielle Unterstützung der EU. Drei Milliarden Euro werden dafür bereit gestellt – vorrangig, um die Unterbringung und Lebensbedingungen zu verbessern. Projektbezogen soll das Geld in bessere Unterkünfte oder neue Schulen investiert werden. Das Geld dazu soll vorrangig aus dem EU-Haushalt kommen.
Vielleicht mehr als an der finanziellen Unterstützung hatte die türkische Regierung im vorangegangenen Verhandlungsprozess Interesse an ihrer eigenen politischen Aufwertung, die sie nun auch bekommen hat. Das beginnt mit der „Wahrnehmung auf Augenhöhe“, wie es in Merkels Umfeld hieß, dass es nicht nur bei diesem einen EU-Türkei-Gipfel bleiben wird, sondern künftig „zwei Gipfel pro Jahr in einem angemessenen Format“ stattfinden werden – also nicht unbedingt mit allen 28 EU-Chefs, aber doch zumindest mit Tusk und Kommissionschef Jean-Claude Juncker.
Dazu werden die 2005 aufgenommenen Verhandlungen zum EU-Beitritt wiederbelebt, die wegen der ungelösten Zypernfrage und nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Menschenrechtslage in der Türkei de facto auf Eis gelegt worden waren. Schon am 14. Dezember wird eine sogenannte Regierungskonferenz abgehalten, um das Verhandlungskapitel 17 zu öffnen, in dem es um die Rechtsangleichung in Wirtschafts- und Währungsfragen geht. Kein Wunder also, dass Davutoglu in Brüssel von einem „historischen Tag in unserem EU-Beitrittsprozess“ sprach. Zeitgleich soll es hochrangige Treffen zu Wirtschafts- und Energiefragen geben. Zudem wird – sehr wichtig für türkische Geschäftsleute – im Frühjahr wohlwollend geprüft, ob die Türkei nun die Voraussetzungen für das Reisen ohne Visum erfüllt.
Ist sich die EU einig?
Was den verbesserten Grenzschutz angeht schon. Es ist der Minimalkonsens in der Flüchtlingskrise, der den Kontinent politisch tief gespalten hat. Von einer Einigung weit entfernt ist man hinsichtlich der direkten Umsiedlung eines bestimmten Flüchtlingskontingents aus der Türkei innerhalb der EU. Ende September hat die Gemeinschaft beschlossen, insgesamt 20 000 Schutzsuchende direkt aus den Flüchtlingslagern rund um Syrien und damit unter Umgehung des gefährlichen Seewegs nach Europa zu holen. Nun aber sind ganz andere Größenordnungen im Gespräch, denen sich gerade die osteuropäischen EU-Staaten strikt verwehren. Von 100 000 spricht ein belgischer Regierungsvertreter. „Die Türkei kann nicht zu einem großen Flüchtlingslager werden“, hieß es am Sonntag aus dem Lager von Jean-Claude Juncker. Über genaue Zahlen könne man jedoch erst sprechen, wenn feststehe, wie erfolgreich die Türkei die Grenzen sichere. Auch Kanzlerin Merkel befürwortet eine Umsiedlung im größeren Stil, das sogenannte Resettlement und will „die illegal Migration durch legale Migration ersetzen“.
Warum stellen sich die Osteuropäer quer?
Dies hat vor allem historische Gründe: Im und nach dem Zweiten Weltkrieg haben die meisten osteuropäischen Staaten ihre Minderheiten verloren. Gleich nach Krieg wurden Grenzen neu gezogen, die großen deutschen Minderheiten vertrieben, ganze Völker in die nach Westen verschobene Sowjetunion eingegliedert. Im Ostblock entstanden weitgehend homogene Nationalstaaten. In diesen gab es keine Gastarbeiterwellen, sondern höchstens ein paar Austauschstudenten aus realsozialistischen Bruderstaaten in Afrika und Asien. Heute ist deshalb der Ausländeranteil der östlichen EU-Mitglieder deutlich geringer als in Westeuropa.
Was versprechen sich die osteuropäischen Regierungen von ihrer Haltung?
Überall zwischen Bulgarien und Estland verstehen es die Populisten, die Situation politisch auszuschlachten. Wie alle Regierung in der EU fühlen sich auch die osteuropäischen vor allem ihren eigene Wählern und Ländern verbunden. Dazu kommt in mehreren Staaten eine insgesamt wachsende Ernüchterung über ihren EU-Beitritt. Es hat sich gezeigt, dass das Wohlstandsgefälle nicht so schnell wie erwünscht ausgeglichen werden kann. In vielen osteuropäischen Ländern werden die EU-Strukturhilfen zudem als späte Wiedergutmachung für den deutschen Überfall und die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs empfunden – oder zumindest als eine Art verspäteter Marshallplan angesehen. Dazu sehen viele Osteuropäer die EU vor allem als deutsches Projekt. Da Angela Merkel wiederum die Flüchtlinge aus Syrien willkommen geheißen hatte, liegt für Populisten der Umkehrschluss nahe, dass man nun von Brüssel dazu verdonnert werden soll, „deutsche Probleme zu lösen“.
Welche besondere Rolle spielt Polen?
Schon aus Prinzip lehnt die Kaczynski-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS)nach ihren klaren Wahlsieg fast alles ab, was ihre jahrelange Erzfeindin PO vertreten hat. Nur Grundsatzentscheide wie die EU- und Nato-Mitgliedschaft, die strategische Partnerschaft mit den USA und das historisch belastete Verhältnis zu Russland bleiben konstant. Bei den PiS-Wählern gilt die EU als dekadenter Sündenpfuhl, in dem beispielsweise Homosexualität propagiert wird. Statt der bisherigen engen Absprachen zwischen Warschau und Berlin preisen sowohl Premierministerin Beata Szydlo (PiS) als auch Staatspräsident Andrzej Duda eine engere Zusammenarbeit mit den ehemaligen Ostblockstaaten an. Polen fühlt sich mit ihnen in einer Schicksalsgemeinschaft und will sie als bevölkerungsstarkes EU-Mitglied anführen. Dies hat bereits Auswirkungen auf die Visegrad-Gruppe (Ungarn, Slowakei, Tschechien und Polen). Scherte Polen dort in der Frage der Flüchtlingsverteilungsquoten noch aus, so will Szydlo nun Viktor Orban folgen. Dies vermag indes Unstimmigkeiten kaum zu überdecken. Denn Polen teilt weder den Anti-Amerikanismus Ungarns und der Slowakei, noch deren Sympathie für Russland.