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Dietmar Bartsch ist Fraktionschef der Linken und Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl
© Nassim Rad

Linken-Spitzenkandidat Bartsch im Interview: „Es geht um die Frage: Linke oder Lindner?“

Der Linken-Politiker über mögliche Koalitionen nach der Wahl, Versäumnisse der Bundesregierung in Afghanistan – und warum er Angela Merkel vermissen wird.

Herr Bartsch, wie haben Sie die vergangene Woche mit den dramatischen Nachrichten aus Afghanistan erlebt?
Die Bilder aus Kabul sind verstörend. Man kann sich kaum vorstellen, was derzeit in den afghanischen Provinzen passiert, vor allem mit Frauen. Das alles ist furchtbar. Jetzt geht es darum, unbürokratisch und schnell zu helfen. Leider hat die Bundesregierung dabei ein miserables Bild abgegeben. Zugleich müssen wir aber die Grundfrage stellen, ob diese Art der Interventionspolitik des Westens nicht gescheitert ist. Das sieht man auch in anderen Ländern, in Libyen und im Irak. Und dazu durchsetzen, dass endlich Schluss sein muss mit dem Wahnsinn der Waffenexporte zum Beispiel in diese Region.

Macht die Linkspartei es sich nicht zu einfach, wenn sie jetzt darauf verweist, von Anfang an gegen den Afghanistan-Einsatz gewesen zu sein?
Es geht nicht darum, recht zu haben. Ich erinnere mich allerdings gut daran, wie wir 2001 als Terroristenfreunde beschimpft worden sind. Der eine oder die andere, die jetzt Krokodilstränen vergießen, sollte darüber nachdenken, ob vielleicht unsere Argumente richtig waren. Als der Bundestag in diesem Jahr über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats entschied, wurde ich wieder beschimpft, weil ich in meiner Rede den Satz von Margot Käßmann zitiert habe: „Nichts ist gut in Afghanistan“. Sozialdemokraten und Grüne haben den deutschen Einsatz 2001 beschlossen. Jetzt erklären einige Grünen-Politiker ganz genau, was alles falsch gelaufen ist, als hätten sie damit nichts zu tun. Das will ich ihnen nicht einfach durchgehen lassen.
Finden Sie es falsch, wenn die Grünen jetzt die Bundesregierung kritisieren?
Nein, das ist sehr berechtigt, aber ein bisschen Demut erwarte ich von einer Partei, die den Einsatz damals mit auf den Weg gebracht hat. Ich habe nicht für möglich gehalten, dass Verteidigungsministerin, Außenminister und die Dienste Deutschlands gemeinsam so grandios versagen können. Wenn ich die Lageeinschätzungen aus dem Auswärtigen Amt noch aus dem Juli lese, fühle ich mich auf den Arm genommen. Das ist doch unfassbar. Auch ein BND-Chef, der das zu verantworten hat, kann eigentlich nicht einfach sagen: Die Karawane zieht weiter.
Heißt das, der BND-Chef sollte zurücktreten?
Ich habe auch nicht gefordert, dass Annegret Kramp-Karrenbauer und Heiko Maas zurücktreten sollen. So kurz vor der Wahl wird das nicht geschehen. Es gibt aber in Deutschland inzwischen eine Unkultur der Verantwortungslosigkeit. Früher sind Politiker für Dinge zurückgetreten, die sie selbst nicht einmal direkt zu verantworten hatten. Heute tritt niemand mehr zurück, nicht einmal Herr Scheuer.

Am Mittwoch entscheidet der Bundestag über das Mandat für die Bundeswehr-Rettungsmission in Kabul. Wird Ihre Fraktion zustimmen?
Wir werden das sehr solide prüfen. Wir haben gefordert, die Ortskräfte aus Afghanistan herauszuholen, als das noch ohne einen Militäreinsatz möglich war. Wer jetzt sagt, die Bundeswehr darf das nicht tun, liegt meines Erachtens falsch. Es müssen möglichst viele Menschen, die wollen, unbürokratisch herausgeholt werden. Die Abstimmung ist auch für unsere Fraktion eine Gelegenheit, über bestimmte Positionen zu reden.

… über Ihre Haltung zur Bundeswehr?
Ich habe zur Bundeswehr eine entspannte Haltung.

Das teilen nicht alle in Ihrer Partei.
Ich werbe dafür, dass wir uns an Sachargumenten orientieren und dann entscheiden. In meiner Fraktion gibt es beim Thema Bundeswehreinsätze zurecht sehr engagierte Debatten, aber wir haben immer gemeinsam abgestimmt. Es ist gut, dass wir uns solche Entscheidungen nicht einfach machen. Diejenigen, die immer alles wissen, die sind mir suspekt. Ich war mal in einer Partei, die immer recht hatte. Das reicht für ein Leben.

Der Unionskanzlerkandidat Armin Laschet hat gesagt, das Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Damals gab es auch in ihrer Partei kontroverse Debatten über die Aufnahme von Flüchtlingen. Wie stehen Sie dazu?
Ich finde den Satz von Armin Laschet zynisch und inhuman. Die Kanzlerin hat damals gesagt: Wenn wir keine Willkommenskultur haben, ist das nicht mehr mein Land. Laschet distanziert sich mit seiner Äußerung von der Kanzlerin. Eine solche Positionierung ist eines Kanzlerkandidaten unwürdig . Wir haben eine besondere Verantwortung für die afghanischen Frauenrechtlerinnen, die Lehrerinnen, die Journalisten. Dringend müssen wir in den Nachbarländern Afghanistans über das UNHCR helfen. Ich erinnere mich an die katastrophalen Zustände in den Lagern für syrische Flüchtlinge in Jordanien: kein Strom, kein Wasser, am Tag 60 Grad, in der Nacht minus 20 Grad. So etwas darf nicht wieder passieren. Das sind die ersten Aufgaben - und nicht eine innenpolitische Debatte, weil Wahlkampf ist.

Kanada hat die Aufnahme von bis zu 20 000 besonders gefährdeten Menschen aus Afghanistan zugesagt, Kosovo nimmt 10 000 Menschen auf. Sollte Deutschland diesen Beispielen folgen?
Deutschland ist bereit zur Aufnahme von Flüchtlingen. Mehrere Bundesländer, viele Städte und Kommunen haben Hilfe angeboten. Horst Seehofer verhindert dies jedoch. Ich finde es skandalös, dass Seehofer behauptet, 300 000 bis fünf Millionen Flüchtlinge könnten nach Deutschland kommen. Was ist denn das für eine Angabe? Damit wird Angst geschürt, von der nur die Falschen profitieren. Ähnliches kenne ich aus meiner vorpommerschen Heimat. Dort gibt es kaum Migranten, aber die Angst ist groß. In Berlin ist es eher umgekehrt. Wir haben wirklich eine große Verantwortung. Das hat erstmal nichts mit Linkssein zu tun, sondern ist in unserer christlich-jüdischen Tradition begründet. Laschet und Seehofer sollten einmal in der Bibel nachlesen, was dort zu Flüchtlingen steht.

Linken-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch
Linken-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch
© Nassim Rad / Tagesspiegel

Lassen Sie uns über den Wahlkampf reden: Fast alle Politiker sind Umfragen-Junkies, haben Sie einmal gesagt. Das müssen harte Zeiten für einen Linken-Spitzenkandidaten sein.
Wenn der Junkie sich seiner Sucht bewusst wird, ist das schon mal gut. Natürlich starrt jeder Politiker auf Umfragen. Aber ich bin ein bisschen geheilt. Zwischen Umfragen und Wahlergebnissen gab es teilweise sehr große Unterschiede. Meine These ist: Die Wahl wird in den letzten 14 Tagen entschieden.

Trotz der Briefwahl?
Ja, Briefwähler sind vielfach ohnehin schon festgelegt. Jetzt geht es um die Unentschlossenen.

In den Umfragen ist in diesen Wochen viel in Bewegung, nur nicht für Ihre Partei. Die Linke kommt kaum über sieben Prozent hinaus. Woran liegt das?
Das Ziel ist und bleibt, dass die Linke zweistellig wird. Das ist weiterhin realistisch. In diesem Wahlkampf erhalten die Parteien, die einen Kanzlerkandidaten stellen, besonders viel Aufmerksamkeit, daneben auch die FDP. Das empfinde ich als ungerecht. Dabei ist in einigen Umfragen ein Mitte-Links-Bündnis möglich. Annalena Baerbock und Olaf Scholz werden oft gefragt, ob sie ein Bündnis mit der Linkspartei ausschließen. Beide haben das nicht getan, das ist ein Fortschritt.

Was heißt das konkret?
Der SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz kann wesentliche Vorhaben niemals mit der FDP, sondern nur mit der Linken durchsetzen: einen Mindestlohn von 12 Euro und eine höhere Besteuerung der großen Vermögen und Einkommen. Christian Lindner hat klargemacht, dass es so etwas mit der FDP nicht geben wird. Es geht also um die Frage: Linke oder Lindner? Bin gespannt, was Scholz seinen Wählern antwortet.

Aber in der Außen- und Sicherheitspolitik gibt es große Unterschiede zwischen Ihrer Partei auf der einen und SPD und Grünen auf der anderen Seite.
Wir müssen uns fragen, was wir gemeinsam umsetzen wollen. Wenn wir Kinderarmut in Deutschland entschlossen bekämpfen wollen, brauchen wir eine Kinder-Grundsicherung, also einen Systemwechsel auf diesem Feld. Den wird es nur mit Sozialdemokraten, Grünen und Linken geben. Auch die höhere Besteuerung der Superreichen geht nur in einem solchen Bündnis. Die Konservativen rufen natürlich immer: Aber die Nato! Über dieses Stöckchen springt zum Glück keiner mehr. Die Linke wird es nicht zur Bedingung für die Aufnahme von Gesprächen machen, dass Deutschland aus der Nato austritt.

Die Linke fordert steuerliche Entlastung für kleine und mittlere Einkommen und höhere Renten, dringt aber damit bei den Wählerinnen und Wählern kaum durch. Schlagzeilen macht die Partei mit innerparteilichem Streit, zuletzt um das Buch von Sahra Wagenknecht.
Natürlich tragen wir wesentlich selbst Verantwortung für die Umfragewerte. Wir standen viel zu lange als zerstrittene Partei da. Ich bin froh, dass wir bei der Wahl der neuen Parteiführung, der Kür der Spitzenkandidaten, beim Wahlprogramm und jetzt im Wahlkampf zeigen, dass wir gemeinsam in die Auseinandersetzung gehen. Es dauert etwas, bis sich das rumspricht.

Aber bei der Linken weiß keiner genau, ob sie am Ende wirklich regieren will. Warum sollte man eine Partei wählen, die es sich im Zweifel lieber in der Opposition gemütlich macht?
Die Linke ist bereit, Regierungsverantwortung auf Bundesebene zu übernehmen. Jeder von uns weiß, dass unser Programm nicht eins zu eins umgesetzt werden wird. Auf dem Parteitag ist ein Antrag, die Linke auf die Oppositionsrolle festzulegen, mit großer Mehrheit abgelehnt worden. Natürlich wollen wir nicht um jeden Preis regieren. Wenn es nur um die Fortsetzung der bisherigen Politik geht, dann stimmt Christian Lindners Satz: Lieber nicht regieren als falsch regieren.

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Beim Thema Klimaschutz wirft die Linke den Grünen „unerträgliche Arroganz“ gegenüber Menschen mit kleinen Einkommen vor. Im Wahlprogramm erheben Sie aber ähnliche Forderungen wie die Grünen: Kohleausstieg bis 2030, keine Neuzulassung von Autos mit Verbrennungsmotor ab 2030.
Es senkt die Akzeptanz für den Klimaschutz, wenn man vor allem auf eine Verteuerung von Strom und Heizung durch einen höheren CO2-Preis setzt. Ich akzeptiere die Angst der alleinerziehenden Mutter, die eine Ölheizung hat und einen Verbrenner fährt. Wenn ich ihr als erstes sage, der Sprit wird teurer, ist sie mit dem Klimaschutz durch.

Aber schüren Sie nicht auch Ängste, wenn Sie Klimaschutz als Projekt darstellen, das Ärmere sich nicht leisten können?
Das ist doch mit der derzeitigen Politik tatsächlich der Fall. Schauen Sie sich die Entwicklung der Energiepreise an. Deutschland hat die höchsten Strompreise in ganz Europa. Oder: ab jetzt tragen allein die Mieter die Mehrkosten durch den CO2-Preis. CDU-Politiker empfehlen, kalt zu duschen. Wie zynisch: Sarrazin is back! Wenn wir beim Klimaschutz erfolgreich sein wollen, müssen wir die Gesellschaft mitnehmen. Das heißt zum Beispiel, dass es Elektroautos geben muss, die weniger als 20.000 Euro kosten, dass wir Ladesäulen nicht nur an Autobahnen brauchen, sondern erst einmal dort, wo Menschen arbeiten oder in großen Mietshäusern leben.

Und dann sind auch Ihre Wählerinnen und Wähler in Vorpommern einverstanden, dass die Linke ab 2030 kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr zulassen will?
Ich wage die Prognose, dass es schon vor 2030 keinen Verbrenner mit dem jetzigen Kraftstoff geben wird. Die Autokonzerne machen dabei gerade Tempo. Mir geht es nicht um Verbote, sondern um strukturelle Änderungen. Ein anderes Beispiel: Warum gibt es keine Inlandsflüge mehr von Berlin nach Hamburg? Weil die Bahn attraktiver und günstiger ist. Die Bahn muss unschlagbar werden und kostengünstig sein. Wir müssen massiv investieren, bevor wir einfach nur den Sprit teurer machen.

Vor zehn Jahren hat Ihre Partei in Sachsen-Anhalt 24 Prozent geholt, in diesem Jahr nur noch elf. In den anderen östlichen Bundesländern - mit Ausnahme von Thüringen - sieht es ähnlich aus. Warum hat die Linke im Osten die Rolle als Volkspartei verloren?
Die PDS war die Anwältin des Ostens. Meine Partei hat sich verändert, seit wir eine gesamtdeutsche Partei sind. Mittlerweile sind in der Bundestagsfraktion mehr Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen und Bayern als aus den ostdeutschen Ländern insgesamt. Ich werbe trotzdem dafür, dass wir uns weiter als besondere ostdeutsche Interessenvertretung verstehen. Gründe gibt es genug: Ostdeutsche arbeiten länger und verdienen bei gleicher Arbeitsleistung immer noch weniger als Westdeutsche, die versprochene Angleichung der Renten gibt es weiter nicht, und wir haben eine enorme Repräsentationslücke: In keinem Bundesministerium zum Beispiel steht ein Ostdeutscher an der Spitze.
Hat die Schwäche der Linken im Osten nicht auch etwas damit zu tun, dass Unzufriedene jetzt eher AfD wählen?
Natürlich höre ich immer mal wieder: Ihr seid doch alle wie Angela Merkel. Aber auch wenn wir in drei Bundesländern und in vielen Kommunen Regierungsverantwortung tragen, bleiben wir auch Protestpartei. Ich glaube, dass wir einen Teil der AfD-Wähler zurückgewinnen können. Nach einer Wahlperiode haben manche gemerkt, dass die AfD im Bundestag real nichts für sie erreicht hat.

Nach 16 Jahren geht die Ära Angela Merkel zu Ende. Was werden Sie vermissen?
Ich glaube, sie wird in der Union relativ schnell vermisst werden. Angela Merkels Standfestigkeit und ihr Durchhaltevermögen habe ich immer bewundert. Ich ziehe den Hut davor, wie sie Krisen bewältigt hat, auch wenn ich politisch oft völlig anderer Auffassung war. Ich rechne ihr hoch an, dass sie sich als ostdeutsche Frau so durchgesetzt hat. Dass sie für die Ostdeutschen viel zu wenig getan hat, steht auf einem anderen Blatt. Nicht zuletzt: Ich werde ihre Art des Humors im Kanzleramt vermissen.

Dietmar Bartsch ist Fraktionschef der Linken im Bundestag und gemeinsam mit Parteichefin Janine Wissler Spitzenkandidat seiner Partei für die Bundestagswahl. Der 63-Jährige ist Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern.

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