Liu Xiaobo: Es braucht unser Gedächtnis
Der chinesische Dissident Liu Xiaobo ist tot, Peking ließ ihn nicht ausreisen. Es muss eine Tafel geben für "Menschen, an die wir denken". Ein Kommentar
Liu Xiaobo ist gestorben. Er wurde 61 Jahre alt. Er litt an Leberkrebs, doch China ließ den Schriftsteller, Menschenrechtler und Friedensnobelpreisträger nicht ausreisen. Er sei bereits zu sehr geschwächt, hieß es. Ein deutscher und ein amerikanischer Arzt, die ihn vor Kurzem im Gefängnis besucht und untersucht hatten, widersprachen. Liu könne durchaus im Ausland von Spezialisten behandelt werden, sagten sie. Aber die chinesische Regierung blieb hart. Liu Xiaobo, der seit 2009 wegen seines demokratischen Engagements in Haft ist, sollte in China sterben.
Als ihm 2010 der Friedensnobelpreis verliehen wurde, blieb ein Stuhl frei. Weder Liu Xiaobo noch seine Ehefrau oder ein anderer Bevollmächtigter konnten den Preis persönlich entgegennehmen. Der Titel seiner nicht gehaltenen Verteidigungsrede vor Gericht lautete: „Ich habe keine Feinde.“
Kurz vor dem G20-Gipfel trafen sich Angela Merkel und der chinesische Staatschef Xi Jinping im Berliner Zoo. Es entstanden Bilder mit zwei Panda-Bären. Ob Europa, seitdem in Amerika Donald Trump regiert, noch enger mit China zusammenarbeiten soll, wurde gefragt. Immerhin ist China beim Klima und Freihandel auf Merkels Seite. Ein Schicksal wie das von Liu Xiaobo stört solche Debatten.
Zehn Jahre und tausend Peitschenhiebe
Der König von Saudi-Arabien hatte seine Teilnahme am G20-Gipfel kurzfristig abgesagt. Allerdings hätte man auch in seinem Beisein wohl kaum über Raif Badawi gesprochen. Seit fünf Jahren sitzt der 33-jährige Blogger in Haft. Wegen „Beleidigung des Islam“ war er zu zehn Jahren und tausend Peitschenhieben verurteilt worden. Nach der ersten Auspeitschung mit fünfzig Hieben war er so schwer verletzt, dass die Fortführung mit weiteren fünfzig Schlägen verschoben werden musste. US-Präsident Trump will mit Saudi-Arabien eine sunnitische Front gegen den Iran bilden.
Just während des G20-Gipfels erklärte die Unesco die angolanische Stadt M’banza Kongo zum Welterbe. In Angola wurde der Schriftsteller und Menschenrechtler Rafael Marques de Morais angeklagt. Ihm wird die „Diffamierung einer öffentlichen Behörde“ vorgeworfen. Marques des Morais betreibt die Anti-Korruptions-Webseite MakaAngola.org. Wird er für schuldig befunden, droht ihm eine Haftstrafe.
Die Liste solcher Fälle ließe sich bis fast in das Unendliche verlängern. Täglich erinnern wir an Deniz Yücel. Auf dem Wittenbergplatz erinnert seit 50 Jahren eine Tafel an NS-Konzentrationslager. Sie nennt „Orte des Schreckens, die wir niemals vergessen dürfen“. Wie wäre es, eine Tafel auf dem Pariser Platz zu errichten für „Menschen, an die wir denken“? Zu gutmenschlich? Vielleicht. Und trotzdem. Für Menschen wie Liu Xiaobo.
Der Autor hat diesen Appell vor zwei Tagen verfasst. Wir veröffentlichen ihn angesichts des Todes von Liu Xiaobo noch einmal in leicht veränderter Form.