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Eltern zwischen Perfektion und Realität: Erziehung ist auch ein Kinderspiel

Viele Eltern fühlen sich überfordert, wenn es um den Nachwuchs geht. Schuld daran ist der Bildungswahn – und der eigene Perfektionismus, der nicht zu erfüllen ist. Ein Essay.

Ein Essay von Arno Makowsky

Es ist eine ausgelassene Gesellschaft am Nebentisch in der Pizzeria. Drei Paare, alle um die vierzig, unterhalten sich fröhlich, lachen, stoßen mit ihren Weingläsern an. Nur am unteren Ende des Tisches ist es merkwürdig still. Hier sitzen vier Kinder. Keines sagt etwas. Alle starren gebannt in die Bildschirme von Handys und iPads, jedes Kind in eines. Die Geräte sind auf stumm geschaltet, die Kinder auch. Einer der Väter sagte vorhin in autoritärem Ton, dass man bei diesem Lärm ja kaum etwas verstehe.

Hier läuft ganz offensichtlich etwas schief, klar, aber es gibt wohl kaum Eltern von sechs- bis vierzehnjährigen Kindern, die eine solche Situation nicht schon selbst erlebt hätten. Mit schlechtem Gewissen. Natürlich wäre es jetzt besser, mit den Kids ein paar Runden Uno zu spielen oder ein Gespräch über die fiese Frau Obermeier im Hort zu führen. Aber haben wir nicht die ganze Woche hart gearbeitet, haben wir nicht auch ein Recht darauf, am Freitagabend mal eine Stunde mit den Freunden zusammenzusitzen? Die elektronischen Geräte machen es leicht, Kinder ruhigzustellen.

Perfektion ist der Anspruch, Frust die Realität

Als Erziehung kann man so etwas sicher nicht bezeichnen, eher als Selbstverteidigung in einem Alltag, der von Überforderung und Stress geprägt ist. Eltern zwischen 30 und 50 arbeiten in der Regel beide, sie wollen in ihrem Beruf erfolgreich sein und außerdem interessante Lebenspartner, sie pflegen ihren Freundeskreis, kümmern sich um die eigenen Eltern, zahlen eine Eigentumswohnung ab. Und das Allerwichtigste sind für sie – natürlich! – die Kinder. Die sollen ihre Talente entfalten können, schließlich leben wir in einer Wissensgesellschaft. Sie lernen ein Instrument, machen Sport, bekommen Unterstützung in Mathe, gehen mit dem Papa ins Fußballstadion und mit der Mama ins Konzert. Wie sollen Eltern das alles schaffen? Gar nicht. Perfektion ist der Anspruch, Frust die Realität.

Wer heute von Erziehung spricht, meint: Wie schafft man es, dem Druck des Familienalltags standzuhalten und dabei halbwegs den selbst auferlegten Erwartungen gerecht zu werden? Die daraus erwachsende Verunsicherung lässt sich gut an den Verkaufszahlen immer neuer Bestseller der Ratgeber-Literatur ablesen. „So stärken Sie Ihr Kind“, „Aus Erziehung wird Beziehung“, „Die besten Erziehungskonzepte im Check“ – so lauten einige neue Titel.

Die besten Erziehungskonzepte – als würde es sich um eine Sammlung für die aufregendsten Rezepte der italienischen Küche handeln. So beliebig sind die Angebote inzwischen auch. Allgemein anerkannte Normen gibt es längst nicht mehr. Noch wer in den 60er Jahren aufwuchs, lernte, dass Mädchen zur Begrüßung einen Knicks machen müssen und Jungen eine leichte Verbeugung. Das wirkt heute lächerlich. Andererseits ist auch niemand damit glücklich, wenn die Kleinen den Blick nicht vom Handy wenden, wenn sie einem Erwachsenen begegnen. Laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage wünschen sich 75 Prozent aller Bundesbürger, dass in den Schulen das Fach „Benehmen“ unterrichtet wird.

Das Autoritäre ist ebenso gescheitert wie das Antiautoritäre

Fest steht: Das Autoritäre der 50er Jahre ist ebenso gescheitert wie das Antiautoritäre der 70er. Aber woran glauben wir heute? Da erklärt mal ein dänischer Erziehungsguru, wie man eine „kompetente Familie“ wird, dann kommt ein ehemaliger Internatsdirektor mit dem „Lob der Disziplin“ daher. Was gilt und in die Zeit passt, weiß kein Mensch. Wir wurschteln uns so durch.

Immerhin eine Regel hat es in den vergangenen Jahrzehnten zum Allgemeingut geschafft: Gewalt ist tabu, Züchtigungen, auch kleine, gehen nicht. Auch Eltern, die von ihren Kindern bis zur Weißglut gepiesackt werden, müssen zu anderen Formen der Repression greifen. Das ist gut so, aber anstrengend. Ein Neunjähriger, der seinen Vater „Arschloch“ nennt, hätte in den 70ern auch vom liebevollsten Vater umgehend eine Ohrfeige bekommen. Heute beißt der Mann die Zähne zusammen und knurrt: „Der Nintendo ist bis zum Wochenende weg!“

Gelassenheit fällt vielen Eltern angesichts hoher Erwartungen schwer

Weil es keine klaren Linien gibt, muss alles verhandelt und diskutiert werden. „Immer Fußball, jetzt ist Schluss mit Fernsehen!“ – „Das ist aber voll wichtig, Champions League.“ – „Null, ab ins Bett!“ – „Komm, die erste Halbzeit…“ – „Okay, aber echt nur die erste.“ So geht das in vielen Familien tagein, tagaus. Dazu kommt, dass Eltern ihren Kindern heute nicht mehr als Respektspersonen, sondern als Freunde begegnen wollen. Man tauscht sich mit ihnen über interessante Apps auf dem iPhone aus, man diskutiert über das neue Album von Cro, man erklärt auch wortreich, dass es bei fünf Grad minus keine supertolle Idee ist, jetzt ohne Mütze aus dem Haus zu gehen. Die Kinder stehen immer im Mittelpunkt, alles richtet sich nach ihnen.

Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt

„Es gibt einen steten Wandel vom Befehls- zum Verhandlungshaushalt“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Jutta Ecarius der „Welt“. Fachleute wie die Professorin aus Köln sind davon überzeugt, dass Erziehen noch nie so mühsam war wie heute – und die Verunsicherung der Eltern noch nie so hoch. Sie raten in erster Linie zu mehr Gelassenheit und dazu, in all dem Erziehungschaos ein paar Grundregeln des Zusammenlebens aufzustellen, die nicht verhandelbar sind. Zum Beispiel, dass man mindestens einmal am Tag gemeinsam zum Essen am Tisch sitzt. Oder nicht länger als die vorher vereinbarte Zeit vor dem Computer verbringt. Regeln, die klar und verständlich vermittelt werden. Nochmal Jutta Ecarius: „Es kommt weniger auf den vermeintlich richtigen Erziehungsstil an als auf Zuwendung, Haltung und Humor.“

Genau diese Gelassenheit fällt vielen Eltern angesichts der hohen Erwartungen aber leider schwer. Beide sind sie im Beruf, haben nur wenig Zeit – und gerade deshalb wollen sie den Kindern alles bieten, was mutmaßlich gut für sie ist. Die beste Kita. Frühförderung. Englisch schon mit Drei. Eine super Grundschule. Und wehe, das Kind bringt eine Fünf in Mathe heim – da hat die Lehrerin wohl komplett versagt! Da muss man mal in die Sprechstunde und fragen, ob ihre pädagogischen Methoden nicht von vorgestern sind. Der Wert der Bildung in der heutigen Gesellschaft wird täglich betont; das Bekenntnis dazu gehört zum Standardrepertoire in Politikerreden. Kein Wunder, dass Eltern, die selbst massiv im Beruf gefordert werden, das auf ihre Kinder übertragen. Die Kleinen möglichst früh an Leistung gewöhnen, intellektuelle Fähigkeiten unterstützen – das halten viele für einen guten Weg. Man wählt die Kita mit sprachlicher Frühförderung, man schickt die Tochter oder den Sohn zur „Kinderakademie“. Wer weiß, was das bringt!

Das lässt sich ziemlich genau beantworten: nichts. „Frühförderung stiehlt Kindern die Zeit“, sagt Lisette Siek-Wattel, die seit 30 Jahren als Erzieherin arbeitet und im Mittelpunkt eines Dokumentarfilms über Pädagogik steht. Viel wichtiger als frühe Bildung sei es, den Kindern Freiräume zu geben, in denen sie selbst Erfahrungen machen können. Sie sollen ganz einfach spielen können, ohne Anleitung.

Offensichtlich steckt hinter der guten Absicht der Frühförderung ein Missverständnis: Was viele Eltern als wertloses „nur spielen“ bezeichnen, ist für Kleinkinder die Möglichkeit, die Welt zu entdecken, Zusammenhänge zu erkennen, die Fantasie zu beflügeln. Sie machen das so, wie es Kinder machen, wie es nur Kinder können. Das einzuschränken heißt, ihre Kindheit zu beschädigen. Und letztlich auch ihre Fähigkeiten.

Ein ständiges Hin und Her, eine Flut von Eindrücken und Anforderungen

Mit dem Bildungswahn, dem schon die Kleinsten ausgesetzt sind, geht noch ein zweites Problem einher: Neben Elternhaus und Kita oder Grundschule müssen schon Vierjährige mit jeder Menge weiterer Umgebungen zurechtkommen, die sie verwirren und ihren Alltag zerstückeln – von der musikalischen Früherziehung bis zum lehrreichen Bastelkurs im Stadtmuseum. Ein ständiges Hin- und Her, immer neue Personen in verschiedenen Funktionen, eine Flut von Eindrücken und Anforderungen. Die Folge ist das, was der Berliner Soziologe Hans Bertram die „Verinselung der Kindheit“ nennt: „Statt verlässlicher Lebensumwelten eine Fülle unverbundener Bezugspunkte“.

Vielleicht ist ja auch das eine der Ursachen für ein überraschendes Umfrageergebnis. Kürzlich wurden für das groß angelegte Projekt „Children’s World“ weltweit 53000 Kinder im Alter von zehn bis zwölf nach ihrer persönlichen Zufriedenheit befragt. Das Ergebnis: Am glücklichsten sind die Kinder in armen Ländern wie Kolumbien. Das reiche Deutschland landet auf Platz neun.

Wichtig ist nicht die schiere Zeitmenge, sondern die Qualität des Zusammenseins

Aber was ist es nur, was Kinder glücklich macht? Wie können wir Erziehung so gestalten, dass unsere Kinder stark in ihr Leben starten, und die Eltern diese Aufgabe nicht als Belastung empfinden?

Die Soziologie und die Erziehungswissenschaft geben uns einige Hinweise. Am wichtigsten für Kinder, so die eindeutige Erkenntnis, sind nicht Schule und nicht Kita. Nicht die Spielekonsole und nicht der Vorlesenachmittag in der Bibliothek. Es ist die Zeit, die sie mit ihren Eltern verbringen. Ganz einfach. Kinder möchten mit ihrer Mutter und ihrem Vater zusammen sein, mit ihren zwei Müttern, zwei Vätern oder mit der alleinerziehenden Mama, kurz: mit den Menschen, die sie am meisten lieben. Wichtig dabei ist nicht die schiere Zeitmenge, sondern die Qualität des Zusammenseins. Auch für Kinder, die den Großteil ihres Tages in der Kita verbringen, bleiben die Eltern die wichtigste Bezugsgröße in ihrem Leben. Worauf es ankommt, nennt Soziologieprofessor Bertram „eine stabile Eltern-Kind-Beziehung“, in der die Kommunikation die wichtigste Rolle spielt. Miteinander reden, spielen, den Alltag teilen. Ein paar verbindliche Regeln aufstellen. Eigentlich nicht so schwer.

An manchen Orten haben schon die Väter das Regiment übernommen

An dieser Stelle lappt die Diskussion von Überlegungen zur richtigen Erziehung ins Soziologische. Denn wenn es in erster Linie darauf ankommt, dass Eltern trotz Job genug Zeit für ihre Kinder haben – dann muss man darüber nachdenken, wie das funktionieren kann. Es leuchtet sofort ein, dass ein vielbeschäftigter Vater, der 50 Stunden und länger im Büro verbringt, keine intensive Beziehung zu Kindern pflegen kann, die sich ihrerseits den Großteil des Tages in Kita oder Ganztagesschule aufhalten. Sicher, hier hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Immer mehr Männer wollen die ersten Jahre ihrer Kinder nicht verpassen; sie melden Elternzeit an, nehmen die „Vätermonate“ beim Erziehungsgeld, sie fühlen sich mit zuständig auch für den Erziehungsalltag. Wer durch Berliner Stadtteile wie Prenzlauer Berg spaziert und einen Blick auf die Spielplätze wirft, hat das Gefühl, dass hippe Väter dort mittlerweile das Regiment übernommen haben; sie sind fast überfürsorglich und protzen mit High-Tech-Kinderwagen wie frühere Männer mit ihren Autos.

Andererseits sollte man diesen Eindruck auch nicht überbewerten. In Wahrheit hinkt Deutschland – was familienfreundliche Strukturen betrifft – im Vergleich mit manchen anderen europäischen Ländern hinterher. So arbeiten in den Niederlanden mehr als 20 Prozent der Männer in Teilzeit (in Deutschland etwa acht Prozent). In Schweden und auch in Frankreich ist es viel üblicher als hierzulande, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern anbieten, sich um die Pflege von Kindern und Angehörigen zu kümmern.

Trotzdem ist die Elternzeit-Republik Deutschland auf dem richtigen Weg, sowohl was die äußeren Verhältnisse betrifft, als auch beim veränderten Rollenverständnis der Väter. Jetzt müssen wir nur noch ein bisschen gelassener bei der Kindererziehung werden. Vielleicht kann man es so sagen: Die meisten klugen Ratschläge stimmen, die meisten Analysen sind okay. Wahrscheinlich hat der sogar der ehemalige Internatsleiter mit seinem Lob der Disziplin ein bisschen recht. Nur ist das alles nicht so wichtig.

Wichtig ist, den Kinder zu zeigen, dass man sie liebt. Sie ernst nimmt und ihnen vertraut. Und sich nicht aufregt, wenn es im Restaurant wieder mal unerträglich laut wird.

Arno Makowsky ist stellvertretender Chefredakteur des Tagesspiegels.

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