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Ein Unterstützer hält bei einer Versammlung in Ankara ein Porträt von Demirtas in die Höhe. (Archiv)
© Reuters/Umit Bektas

Wahlen in der Türkei: Erdogans Herausforderer aus dem Knast

Selahattin Demirtas, Spitzenkandidat der Kurdenpartei HDP, könnte dem türkischen Präsidenten sogar aus dem Gefängnis gefährlich werden – wenn sich die Opposition einig ist. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Susanne Güsten

Er wird bei keiner Wahlkampfkundgebung auftreten, keine Hände schütteln und keine Fernsehinterviews geben. Und doch könnte Selahattin Demirtas, inhaftierter 45-jähriger Kurdenpolitiker, den Ausgang der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen entscheidend beeinflussen. Demirtas tritt aus der Gefängniszelle heraus als Präsidentschaftskandidat der legalen Kurdenpartei HDP an – und könnte einen Sieg von Staatschef Recep Tayyip Erdogan verhindern, indem er kurdische und linksliberale Wähler motiviert, zur Wahl zu gehen.

Schon bei der letzten Präsidentenwahl vor vier Jahren verbuchte Demirtas, damals als HDP-Chef, mit einem Ergebnis von etwa zehn Prozent einen Achtungserfolg. Der telegene und rhetorisch begabte Politiker, der in seiner Freizeit – und derzeit in seiner Zelle – Kurzgeschichten schreibt und malt, spricht neben Kurden auch linke und junge Wähler in den türkischen Großstädten an.

Der "kurdische Obama" sitzt seit 2016 in U-Haft

Nicht umsonst wird Demirtas der „kurdische Obama“ genannt: Wie der erste afro-amerikanische US-Präsident genießt er den Ruf des redegewandten Underdogs, der die Leute mitreißen kann. Meinungsforschern zufolge könnte Demirtas selbst aus der Haft so viele Stimmen auf sich vereinigen, dass Erdogan in der ersten Runde der Präsidentenwahl am 24. Juni unter 50 Prozent bleibt und sich am 8. Juli einer Stichwahl stellen muss.

Erdogans Regierung und die türkische Justiz betrachten die HDP als politischen Arm der verbotenen Terrororganisation PKK. Demirtas und die ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, Figen Yüksekdag, sitzen deshalb seit November 2016 in Untersuchungshaft. Über Twitter und Zeitungsartikel mischt Demirtas trotzdem so gut es geht in der politischen Diskussion mit. In einem Brief an die Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ rief er jetzt zu einer gemeinsamen Haltung aller Erdogan-Gegner auf.

Doch da hapert es noch. Aus einem neuen Bündnis aus vier Oppositionsparteien bleibt die HDP ausgeschlossen, weil Säkularisten und Nationalisten die Zusammenarbeit mit den Kurden scheuen. Auch Demirtas selbst ist nicht unumstritten. So wird ihm vorgeworfen, sich nicht klar genug von der PKK distanziert zu haben.

Nun stehen kurdische wie nicht-kurdische Gegner Erdogans vor einer Zäsur: Laut Umfragen könnte es bei einer Stichwahl auf die Stimmen der Kurden ankommen – und dann hängt viel davon ab, was Demirtas seinen Wählern empfiehlt.

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