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An der Grenze der Provinz Istanbul ließ Kemal Kilicdaroglu weiße Tauben fliegen.
© Reuters

Protestmarsch gegen Erdogan: 430 Kilometer im Namen der Gerechtigkeit

Immer mehr Türken beteiligen sich am Protestmarsch – Erdogan lässt das nicht mehr kalt.

Als er zu Mittag vor dem blauen Schild steht, das die Grenze der Provinz Istanbul markiert, lassen Kemal Kilicdaroglu und seine Parteifreunde weiße Tauben fliegen. Mit einer Botschaft des Friedens soll diese politische Protestaktion zu Ende gehen, mit der Kilicdaroglu, der Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei, die autoritäre Herrschaft des Staatschefs Recep Tayyip Erdogan herausgefordert hat. Es ist Tag 23 des Fußmarschs. Auf 50.000 Teilnehmer soll der Zug von Menschen am Freitag angeschwollen sein.

Die Anhänger schwärmen schon vom „Yürüyüsü-Geist“, vom Vermächtnis des „Gerechtigkeitsmarschs“, wie der türkische Oppositionsführer seinen Gewaltmarsch von Ankara nach Istanbul getauft hat. Vier Jahre nach den Massenprotesten um den Gezi-Park im Zentrum von Istanbul soll also nun auch dieser „Adalet Yürüyüsü“ ins kollektive Gedächtnis der türkischen Gesellschaft eingehen, so hoffen wenigstens die Mitmarschierer.

Alles ist Symbol in diesen Tagen in der Türkei, die Stimmung noch aufgeheizter, jetzt, kurz vor dem ersten Jahrestag des Putschs vom 15. Juli. In Edirne, am anderen Ende der Republik, wo man den kurdischen Parteiführer Selahattin Demirtas in ein Hochsicherheitsgefängnis gesteckt hat, sind es Handschellen. Weil er nicht mit gefesselten Händen zu seiner ersten Anhörung vor Gericht gebracht werden will, geht Demirtas wieder zurück in seine Zelle. Er sei immer noch ein vom Volk gewählter Parlamentsabgeordneter, sagt Demirtas den Polizeibeamten.

50.000 Verhaftungen seit Verhängung des Ausnahmezustands

Um vier Uhr morgens sollte seine Reise zum Strafgericht nach Ankara beginnen. Demirtas wird Unterstützung einer Terrororganisation vorgeworfen, wie den anderen 50.000 Türken, die seit der Verhängung des Ausnahmezustands verhaftet wurden. Ihm wird auch noch Anstachelung zum Aufruhr zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb für den Ko-Vorsitzenden der prokurdischen HDP, der zweitgrößten Oppositionspartei im Parlament, 142 Jahre Haft beantragt.

Kemal Kilicdaroglu trägt gewissermaßen eine Mitschuld an Demirtas' Verhaftung. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen, kemalistischen CHP hatte im Frühjahr 2016 für eine kollektive Aufhebung der parlamentarischen Immunität gestimmt. Ein enormer politischer Fehler, wie politische Beobachter sagen. Ein Teil von Kilicdaroglus Fraktion unterstützte damals die Vorlage von Erdogans Regierungspartei. Jeder Parlamentsabgeordnete, gleich welcher Partei, gegen den Ermittlungen der Justiz liefen, sollte für diese eine Legislaturperiode seinen Schutz verlieren.

"Gerechtigkeitsmarsch" von Ankara nach Istanbul

Der Antrag richtete sich in erster Linie gegen die HDP. Erdogan wollte sie ausschalten. Doch als es im Vormonat auch einen Parlamentarier der CHP traf, konnte Kilicdaroglu nicht mehr schweigen. Der Istanbuler Abgeordnete Enis Berberoglu wurde wegen angeblicher Spionage zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt und noch aus dem Gerichtssaal abgeführt. Kilicdaroglu begann daraufhin seinen "Gerechtigkeitsmarsch" von Ankara nach Istanbul. 430 Kilometer in Hitze und Regen.

Zum Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Maltepe, wo Berberoglu sitzt, darf der Zug der CHP nicht marschieren. Für Sonntagabend ist deshalb zum Abschluss des „Gerechtigkeitsmarschs“ eine Großkundgebung an der breiten Uferstraße in Maltepe am Marmarameer geplant. Die letzten drei symbolischen Kilometer wollen Kilicdaroglu und seine Mitstreiter dabei zurücklegen. "Er läuft jetzt", ätzte Erdogan vor türkischen Journalisten auf dem Flug zum G20-Gipfel Hamburg. Die öffentliche Ordnung störe Kilicdaroglu damit nur und Zeit für politische Kundgebungen fände er auch noch. "Was ist das mit Deiner Gerechtigkeit?", wurde Erdogan zitiert.

Bereits am Dienstag mobilisiert Erdogans Staat seine Bürger

Es gibt eine historische Ähnlichkeit, die der türkischen Führung Unbehagen bereitet. Auch Ismet Inönü, Atatürks Nachfolger im Amt des Präsidenten und später Oppositionsführer und Chef der CHP wie Kilicdaroglu, marschierte einmal, wenn auch nur wenige Meter. Das war 1959, als der konservativ-islamische Ministerpräsident Adnan Menderes regierte – Erdogan nahm ihn als Vorbild – und immer autoritärer wurde. Menderes befahl der Armee, Inönü an der Fahrt zu einer Kundgebung zu hindern. Inönü jedoch stieg aus seinem Zug und begann zu Fuß zu gehen, durch die Reihen der Soldaten, die sich plötzlich öffneten. "Ismet Pascha!", jubelten die Soldaten dem ehemaligen Kommandeur im türkischen Unabhängigkeitskrieg zu. Ein Jahr später, 1960, folgte der erste Putsch in der Türkei. Menderes wurde hingerichtet.

Mit der Situation heute lässt sich dies nicht vergleichen. Den Putsch 2016 verurteilte auch die Opposition. Doch das Gefühl der Unwägbarkeit teilen viele Türken: Was wird am Ende aus dem Marsch nach Gerechtigkeit? Wohin steuert das Land? Bereits am Dienstag mobilisiert Erdogans Staat seine Bürger. Dann beginnen Gebete und Nachtwachen zum Gedenken an den Widerstand der Türken gegen den Staatsstreich vom 15. Juli.

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