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Der türkische Präsident Erdogan
© Reuters/Pavel Golovkin

Die Türkei in Regionalkonflikten: Erdogan will überall mitreden – eine politische Vision hat er nicht

Die Türkei agiert wie nun im Konflikt um Bergkarabach kurzsichtig. Auf Beistand seiner Nato-Partner kann Erdogan im Ernstfall nicht hoffen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Thomas Seibert

Das Nato-Land Türkei weitet seinen Einfluss im Hinterhof Russlands aus. Bei den militärischen Erfolgen Aserbaidschans im Krieg gegen Armenien um die Region Bergkarabach seit Ende September waren türkische Kampfdrohnen und Militärberater mit entscheidend. Das von Russland vermittelte Waffenstillstandsabkommen spricht dem türkischen Partner Aserbaidschan große Gebietsgewinne zu. Ankara konnte seine Forderung nach Stationierung türkischer Truppen im Kaukasus zwar nicht durchsetzen.

Doch immerhin sollen türkische Soldaten zusammen mit russischen Offizieren in einem Befehlszentrum in Aserbaidschan eingesetzt werden. Zudem erhält Ankara durch die Öffnung einer Straßenverbindung in der Region erstmals einen direkten Zugang über den Landweg zum aserbaidschanischen Kerngebiet. Die Bindung Aserbaidschans an den Partner Türkei wird noch enger.

Damit kann der türkische Präsident Erdogan einen neuen Erfolg seiner aggressiven Außenpolitik verbuchen. Die Türkei mischt in Syrien und Libyen mit, sie greift in die Ausbeutung von Gasvorräten im östlichen Mittelmeer ein, sie lässt ihre Luftwaffe im Irak angreifen und hat nun auch im Kaukasus einen Fuß in der Tür.

Überall lautet Erdogans vordringliches Ziel, ein Mitspracherecht seines Landes in regionalen Fragen durchzusetzen. Der Türkei fehlt allerdings eine politische Vision, die über kurzfristige Aktionen hinausreicht.

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Im Kaukasus zum Beispiel werden jetzt rund 2000 russische Soldaten stationiert, die vorher nicht dort waren – ob das den langfristigen Interessen von Aserbaidschan und der Türkei entspricht, ist fraglich. In Syrien bleibt die Türkei von Russland abhängig. Auch handelt Erdogan ohne Absprache mit den westlichen Verbündeten.

Sollten im Kaukasus neue Spannungen mit Russland entstehen, könnte sich die Türkei auf das Beistandsversprechen der Nato besinnen – doch Europa und Amerika werden Erdogan nicht aus einer Situation heraushelfen wollen, die er sich selbst eingebrockt hat.

Auch in anderen Bereichen zeichnen sich Probleme ab. Die EU will Anfang Dezember wegen des Gasstreits im Mittelmeer über Wirtschaftssanktionen gegen die Türkei entscheiden. Unter dem designierten Präsidenten Biden könnten auch die USA neue Strafmaßnahmen gegen Ankara verhängen. Die Rechnung für Erdogans Politik steht noch aus.

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