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Menschen schreien lautstark im von ihnen besetzten Parlamentsgebäude in Eriwan.
© Dmitri Lovetsky/AP/dpa
Update

Nach Einigung über Waffenruhe in Berg-Karabach: Polizei erlangt Kontrolle über Regierungssitz in Armenien wieder

Menschen hatten Parlament und Regierungssitz aus Protest gestürmt. Der armenische Präsident will erst aus den Medien von der Vereinbarung erfahren haben.

Die armenische Polizei hat die Kontrolle über den Regierungssitz und das Parlamentsgebäude in Eriwan wiedererlangt, nachdem Hunderte Demonstranten die Gebäude aus Wut über ein Waffenstillstandsabkommen mit Aserbaidschan im Konflikt um Berg-Karabach gestürmt hatten.

Polizisten sicherten am Dienstagmorgen den Regierungssitz ab, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichtete. Im Regierungssitz hatten die Demonstranten Büros verwüstet und Fenster zerschmettert.

Aktivisten kündigten nach der Räumung an, im Laufe des Tages erneut zu protestieren. Polizisten schnitten eine zum Parlament führende Straße vom Verkehr ab, anschließend wurde das Gebäude geräumt. Eine Gruppe von rund 20 Demonstranten wurde davon abgehalten, eine Straßenblockade zu errichten.

Nach mehr als sechs Wochen schwerer Gefechte in der Südkaukasus-Republik Berg-Karabach hatten sich Armenien und Aserbaidschan in der Nacht zum Dienstag auf ein Ende aller Kampfhandlungen verständigt. Die Vereinbarung kam unter Vermittlung von Russlands Präsidenten Wladimir Putin zustande, wie der Kreml in Moskau mitteilte.

Übergriffe auf Parlamentschef

Nach Bekanntgabe des Waffenstillstandsabkommens waren in Eriwan tausende Menschen auf die Straße gegangen. Sie beschimpften Armeniens Regierungschef Nikol Paschinjan als „Verräter“ und forderten seinen Rücktritt. Zunächst war unklar, wo sich Paschinjan aufhielt.

In einer bei Facebook verbreiteten Erklärung kritisierte er die Demonstranten. Auf Videos war zudem zu sehen, wie Menschen den Parlamentschef aus seinem Dienstwagen zerrten und ihn schlugen. Sie hätten so Auskunft über den Aufenthalt von Paschinjan erzwingen wollen.

Die neue Waffenruhe soll um 1.00 Uhr Ortszeit (22.00 Uhr MEZ) in Kraft getreten sein. In der Krisenregion Berg-Karabach blieb es am Dienstagmorgen zunächst ruhig. Weder das armenische Verteidigungsministerium noch das von Aserbaidschan meldeten Gefechte um die bergige Region.

Armenischer Regierungschef Paschinjan: „Der Text ist für unser Volk schmerzhaft“

Das aserbaidschanische Fernsehen zeigte live, wie Aliyev und Putin parallel die Dokumente unterzeichneten. Ursprünglich sollte auch der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan dabei sein. „Paschinjan weigerte sich, die Erklärung zu unterzeichnen, doch er wird es tun müssen“, verkündete Aliyev später in einer Ansprache an die Nation.

Wladimir Putin, Präsident von Russland.
Wladimir Putin, Präsident von Russland.
© Alexei Nikolsky/dpa

Paschinjan selbst sprach von einer äußerst schwierigen Entscheidung. „Der Text ist für mich persönlich und für unser Volk schmerzhaft.“ Er habe sich aber nach reiflicher Überlegung und Analyse der Lage für eine Unterzeichnung entschieden, schrieb Paschinjan. Beobachter werteten das als Kapitulation. Aliyev sagte dazu: „Das ist faktisch die militärische Kapitulation Armeniens.“

Der armenische Präsident Armen Sarkissjan zeigte sich überrascht von der Vereinbarung. „Ich bin von der Presse darüber informiert worden“, sagte er am Dienstag in der Hauptstadt Eriwan. Aus den Medien habe er auch über die Bedingungen für ein Ende des Kriegs erfahren.

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„Es gab leider keine Konsultationen oder Diskussionen mit mir über das Dokument.“ Jeder Schritt, jede Maßnahme und insbesondere die Unterzeichnung eines so wichtigen Dokuments sollten jedoch Gegenstand umfassender Diskussionen sein. Sarkissjan kündigte an, vor allem auch die Opposition zusammenzubringen, um einen Ausweg aus der Krise zu finden.

Der Führer der nicht anerkannten Republik Karabach, Araik Arutjunjan, verteidigte die Übereinkunft. „Die entstandene schwere Situation berücksichtigend und ausgehend von der Notwendigkeit, weitere große menschliche Verluste und den vollständigen Verlust von Karabach zu vermeiden, habe ich meine Zustimmung zur Beendigung des Krieges gegeben“, schrieb der 46-Jährige bei Facebook.

Überwachung durch russische Friedenstruppen

Russische Friedenstruppen sollen die Waffenruhe den Angaben zufolge überwachen. Die ersten vier Flugzeuge vom Typ Iljuschin Il-76 seien in der Nacht zum Dienstag mit Soldaten und gepanzerten Fahrzeugen in die Krisenregion geflogen, teilte das russische Verteidigungsministerium in Moskau der Agentur Interfax zufolge mit. Als offizieller Beginn der Mission sei 7.00 Uhr Ortszeit (4.00 Uhr MEZ) vereinbart worden.

Der aserbaidschanische Staatschef Ilham Aliyev sagte, der Einsatz von Friedenstruppen sei vorerst auf fünf Jahre begrenzt. Er könne jedoch verlängert werden, wenn sowohl Armenien als auch Aserbaidschan dem zustimmten. Das Kontingent soll demnach rund 2000 Soldaten betragen.

Die Vereinbarung sieht zudem einen Gefangenenaustausch vor. Darüber hinaus sollen die Leichen getöteter Soldaten übergeben werden. Flüchtlinge sollen unter Aufsicht der Vereinten Nationen in ihre Heimat zurückkehren. Russische Grenztruppen übernehmen die Kontrolle über die Transportverbindungen zwischen Karabach und Armenien. Aserbaidschan und Armenien hätten sich verpflichtet, ihre aktuellen Positionen einzufrieren, sagte Putin weiter.

Nach Ansicht von Putin ist die Vereinbarung die Grundlage für eine langfristige Lösung des Karabach-Problems. Bisher gab es bereits drei Anläufe für eine Waffenruhe. Sie scheiterten allesamt. Es ist aber das erste Mal, dass die Staats- und Regierungschef eine solche Vereinbarung unterzeichneten.

Wenige Stunden vor der Übereinkunft war ein russischer Militärhubschrauber auf armenischem Gebiet von Aserbaidschan abgeschossen worden. Zwei Besatzungsmitglieder starben dabei. Aserbaidschan entschuldigte sich dafür mehrfach bei Russland.

Armenische Soldaten im Südkaukasus
Armenische Soldaten im Südkaukasus
© dpa/AP/Uncredited

Die Türkei hat die Vereinbarung zwischen Armenien und Aserbaidschan über ein Ende der Kämpfe um die Konfliktregion Berg-Karabach im Süden des Kaukasus begrüßt. Außenminister Mevlüt Cavusoglu schrieb am Dienstag auf Twitter, der Verbündete Aserbaidschan habe einen wichtigen Gewinn auf dem Feld und am Verhandlungstisch erzielt. „Ich gratuliere von Herzen zu diesem freudigen Erfolg.“ Man werde den aserbaidschanischen „Geschwistern“ weiter zur Seite stehen.

Die Gefechte dauern bereits seit Ende September an. Der Konflikt selbst ist schon jahrzehntealt. Die Zahl der Getöteten aufseiten Berg-Karabachs war am Montag um 44 auf 1221 gestiegen, wie die Behörden mitteilten. Baku macht wegen der Zensurbestimmungen während des Kriegszustands keine Angaben zu Verlusten bei den Streitkräften.

Aserbaidschan verlor in einem Krieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund 30 Jahren die Kontrolle über das bergige Gebiet mit etwa 145.000 Bewohnern. Seit 1994 galt eine brüchige Waffenruhe. Aserbaidschan beruft sich in dem neuen Krieg auf das Völkerrecht und sucht immer wieder die Unterstützung von seinem „Bruderstaat“ Türkei. Armenien wiederum setzt auf Russland als Schutzmacht. (dpa, AFP)

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