Nach dem Referendum: Erdogan verliert keine Zeit beim Umbau der Türkei
Der türkische Präsident Erdogan macht Tempo bei der Einführung des Präsidialsystems. Schon Stunden nach dem Verfassungsreferendum treten erste Änderungen in Kraft.
Die Regierungsbank fliegt raus, die Minister sitzen künftig auf der Besuchertribüne. 50 neue Abgeordnetenstühle warten bereits verpackt im Parlament in Ankara. Recep Tayyip Erdogan lässt seinen Staat umbauen: Präsidialregime statt parlamentarische Demokratie. Dass das knappe Ergebnis des Verfassungsreferendums vom vergangenen Sonntag korrigiert oder wegen seiner zahlreichen Unregelmäßigkeiten gar annulliert wird, gilt als ausgeschlossen.
Der Umbau des Parlamentsplenums in Ankara ist noch die einfachste Sache. Die Zahl der Abgeordneten wird um 50 auf 600 erhöht, das Amt des Ministerpräsidenten dafür abgeschafft. Erdogan übernimmt das tägliche Regierungsgeschäft. Die Minister sucht er sich selbst aus. Sie kommen zu ihm in den Präsidentenpalast, nicht ins Parlament. Bis es aber so weit ist, muss improvisiert werden. Rechtlich steuert die Türkei in unbekannte Gewässer.
18 Verfassungsänderungen hat eine Mehrheit der türkischen Wähler mit dem Volksentscheid angenommen. Drei treten sofort in Kraft, die anderen jedoch erst mit der gemeinsamen Neuwahl von Parlament und Präsident. Die ist offiziell für den 3. November 2019 festgesetzt.
Spekulation über vorgezogene Neuwahlen
144 „Harmonisierungsgesetze“ würden innerhalb der kommenden sechs Monate verfasst, so heißt es nun aus dem türkischen Justizministerium. Denn eine Zwischenlösung muss her für die Zeit, in der das Präsidialregime zwar von der Hälfte des Volks angenommen, aber noch nicht in Kraft ist. Warten will der Staatschef nicht. „Wir müssen schnell vorangehen“, hatte er am Wahltag erklärt. Die rechtliche „Harmonisierung“ wird auf eine Art großes Ermächtigungsgesetz für Erdogan hinauslaufen. Die absolute Mehrheit seiner konservativ-islamischen Regierungspartei AKP im Parlament reicht dafür. Über vorgezogene Neuwahlen wird weiter spekuliert. Doch nach dem enttäuschenden Ergebnis vom Sonntag sind AKP und der Präsidentenpalast vorsichtig.
Jetzt schon umgesetzt wird die Reform des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte (HSYK) in der Türkei. Dieses Selbstverwaltungsorgan der Justiz, das die Personalhoheit über den Justizapparat hat und dabei auch entscheidet, wer mit welchen Ermittlungen und Gerichtsverfahren betraut oder aber davon entbunden wird, steht seit Jahren im Zentrum der politischen Einflussnahme durch Präsident und Regierung. Wer den HSYK in der Hand hat, steuert die Justiz in der Türkei.
Das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen soll den Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte zu großen Teilen mit seinen Leuten besetzt gehalten haben – mit Wissen und Billigung der politischen Führung in Ankara. Seit den Korruptionsermittlungen gegen die Regierung Erdogan Ende 2013 und erst recht seit dem vereitelten Putsch im Vorjahr ist im HSYK zahllose Male gesäubert worden. Muzaffer Bayram, der frühere Generalsekretär, wurde im November vergangenen Jahres als angeblicher Gülenist verhaftet und soll mit zwei gebrochenen Handgelenken in einer Einzelzelle sitzen.
Mit den nun angenommenen Verfassungsänderungen muss der neue Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) binnen 30 Tagen gewählt werden. Die Zahl der Ratsmitglieder wird von 22 auf 13 gekürzt. Erdogan bestimmt als Präsident nun vier Mitglieder und entsendet als weitere Mitglieder seinen Justizminister und dessen Stellvertreter; das Parlament – in dem Erdogans Partei die Mehrheit hält – wählt sieben Vertreter; die Justiz selbst kann keine Mitglieder mehr bestimmen.
Abgeschafft werden ab sofort auch die Militärgerichte und das Prinzip der Unparteilichkeit des türkischen Präsidenten. Bis Ende des Monats dürfte Tayyip Erdogan wohl wieder offiziell „einfaches“ Parteimitglied sein. Ein außerordentlicher Parteitag wird ihn im Lauf des Jahres zurück an die Spitze der AKP setzen. Jede Woche an einem Tag will der Staatschef dann angeblich in seinem Büro am Sitz der AKP in Ankara die Fäden ziehen.