Berlin-Besuch: Erdogan spaltet die Massen – auch in Deutschland
Heute Abend spricht der türkische Ministerpräsident Erdogan im Berliner Tempodrom vor großem Publikum. Der Auftritt des umstrittenen Regierungschefs ist purer Wahlkampf, meint Cetin Demirci, denn knapp die Hälfte der drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland ist in der Türkei wahlberechtigt.
Die Reden des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan sind legendär. Mit seinen Ansichten zur Integration von Türken in Deutschland hatte Erdogan schon in der Vergangenheit für Aufregung gesorgt, 2008 in Köln und 2011 in Düsseldorf. „Assimilierung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, sagte er in Köln. In Düsseldorf forderte er, dass türkische Kinder in Deutschland erst Türkisch und dann Deutsch lernen sollten.
Damals konnte der erfolgsverwöhnte Ministerpräsident auf die politischen Reformen und das kräftige Wirtschaftswachstum verweisen, das er seinem Land beschert hatte. So wusste er bei seinen Reden stets die Mehrheit des Volkes hinter sich.
Heute Abend spricht der türkische Regierungschef erneut vor großem Publikum. Im Berliner Tempodrom wird er eine Rede vor türkischen und türkischstämmigen Bürgern halten. Organisiert hat den Auftritt mit dem Titel „Berlin trifft den großen Meister“ die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Sie steht der Regierungspartei AKP des islamisch-konservativen Regierungschefs nahe.
Der Auftritt ist Wahlkampf. Fast drei Millionen Menschen in Deutschland haben türkische Wurzeln. Knapp die Hälfte von ihnen ist in der Türkei wahlberechtigt. Zum ersten Mal sollen Türken im August, wenn der türkische Staatspräsident direkt vom Volk gewählt wird, auch außerhalb des Staatsgebietes wählen können. Diese Wähler will Erdogan mobilisieren. Es ist davon auszugehen, dass er kandidiert.
Größter Korruptionsskandal der türkischen Geschichte
Auf Wahlkampfveranstaltung präsentiert sich Erdogan gerne als Staatenlenker. Im Angesicht einer schwachen Opposition, die den Wählern keine glaubwürdige Alternative bietet, musste er bisher auch nicht viel Überzeugungsarbeit leisten. Doch reicht das auch diesmal?
Sein Auftritt erfolgt inmitten des größten Korruptionsskandals in der Geschichte der Türkei. Die Wirtschaft schwächelt. Viele der Reformen wurden rückgängig gemacht, die Unabhängigkeit der Justiz mittlerweile arg beschnitten. Seit Beginn der Korruptionsaffäre vor sechs Wochen sind vier Minister zurückgetreten, sechs Abgeordnete haben die islamisch-konservative Partei verlassen, Hunderte Polizisten und Staatsanwälte sind entlassen oder versetzt worden.
Vor knapp elf Jahren versprach Recep Tayyip Erdogan Wohlstand, Gerechtigkeit, eine Annäherung an die EU und einen moderaten Islam. Er wollte sein Land modernisieren und dem Klüngel ein Ende setzen. Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung hoffte auf eine bessere Zukunft und wählte ihn damals zum Ministerpräsidenten.
Dann aber riet der Politiker, der als Modernisierer angetreten war, den türkischen Frauen, mindestens drei Kinder zu Welt zu bringen; er setzte sich zum Ziel, gemischt-geschlechtliche Studenten-Wohnheime abzuschaffen und Alkohol aus dem öffentlichen Leben der Türkei zu verbannen. Erdogan begann, nach Ansicht seiner Kritiker, sein wahres Gesicht zu zeigen. Im Sommer schlug er im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz in Istanbul mit äußerster Härte die Protestwelle gegen seine Regierung nieder und sorgte damit auch bei der türkischen Diaspora für Empörung. In Berlin gingen Tausende aus Protest gegen den Ministerpräsidenten auf die Straße.
Dabei hatte Erdogan als Oppositionspolitiker einst selbst die Macht des Staates zu spüren bekommen. 1999, fünf Jahre nachdem er zum Istanbuler Oberbürgermeister gewählt worden war, musste er wegen religiöser „Aufhetzung des Volkes“ für vier Monate ins Gefängnis und verlor sein Amt. Er hatte bei einer Veranstaltung der später verbotenen Wohlfahrtspartei (RP) ein Gedicht zitiert. Darin heißt es: „Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Armee.“
Als es um das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten ging, klagte der islamisch-konservative Politiker einst selber über die Eingriffe der Laizisten im Staatsapparat, weil sie jungen Türkinnen vorschrieben, was sie tragen dürfen und was nicht.
Erdogan ist ein Kämpfer
Jetzt ist es Erdogan, der das staatliche Handeln an seinen eigenen Moralvorstellungen ausrichtet. Kritik begegnet er mit Verweis auf das demokratische Mandat seiner Politik, und macht damit klar, dass ihn die Meinung der 50 Prozent, die ihn nicht gewählt haben, wenig interessiert. So werden enttäuschte Bürger zu Gegnern. Gegner, die die Einheit des Landes gefährden.
Das bekam zuletzt auch der Vorsitzende der Industrie- und Wirtschaftsvereinigung der Türkei (Tüsiad), Muharrem Yilmaz, zu spüren. Er klagte darüber, dass die Herrschaft des Rechts nicht beachtet werde, Firmen unter Druck gesetzt und Ausschreibungsregeln immer wieder geändert würden. Daraufhin warf ihm Erdogan “Landesverrat“ vor.
Dabei gibt sich der 59-Jährige gerne als ein Mann aus dem Volk. Aufgewachsen als Sohn eines Fährboot-Kapitäns im Istanbuler Arbeiter- und Armenviertel Kasimpasa, ist Erdogan stolz auf das, was er erreicht hat. Seine Anhänger schätzen seine Beharrlichkeit, seine Gegner bezeichnen es als Macho-Gehabe. Erdogan ist ein Taktiker und er war schon immer mehr Pragmatiker als Frömmler. Aber vor allem ist er ein Kämpfer.
Genau das könnte ihm bei den Präsidentschaftswahlen zum Verhängnis werden. Denn er polarisiert, statt zu versöhnen, wie sein alter Weggefährte: Staatspräsident Abdullah Gül. Die Freunde und Gründungsmitglieder der AKP sind politische Rivalen. Denn will Erdogan im Sommer das Präsidentenamt, dann müsste Gül seinen Platz räumen. Doch der hat bisher keine Anzeichen gezeigt, dies tun zu wollen. Beliebter als Erdogan ist er in seinem Amt allemal.
Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gründete Erdogan 2001 die konservative islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und gewann mit ihr 2002 die Parlamentswahlen. Vielen seiner Landsleute geht es heute besser als vor seiner Zeit als Ministerpräsident. Dreimal gewann er die Wahlen. Viele haben ihn gefeiert, als er der undemokratischen Macht des Militärs einen Riegel vorschob. Doch seine zunehmend autoritären Tendenzen gehen auch einigen AKP-Mitgliedern zu weit. Und ein halbes Jahr vor der Präsidentschaftswahl hat auch Erdogan gemerkt: Wenn jemand seine Macht begrenzen kann, sind es die Wähler.
Erdogan spaltet – auch in Berlin
„Überall ist Taksim, überall ist Widerstand“ lautete der Schlachtruf bei den Berliner Demonstrationen in diesem Sommer. Tausende hatten sich mit den Protestlern im Istanbuler Gezi-Park solidarisiert. „Die Macht hat Tayyip verrückt gemacht“ stand auf einem roten Schild geschrieben, dass ein Demonstrant Anfang Juni am Wittenbergplatz in den Händen hielt. „Wir haben wirklich genug von Erdogan“, sagte der 49-jährige Serdal, der bereits vor 30 Jahren nach Deutschland eingewandert ist.
Doch nicht alle sahen und sehen das so.
Vor einer Moschee in Berlin-Neukölln sitzt im Sommer, zur Hochzeit der Proteste, eine Gruppe Männer beim Tee. Ich erinnere mich noch an den Militärputsch 1980, sagt der Gemüsehändler Osman. „Die monatelangen Straßenschlachten zwischen den Linken und Rechten.“ Damals sei alles viel schlimmer gewesen.
Kein Alkohol im öffentlichen Leben? Es gebe doch viele europäische Länder, in denen das so sei, sagen die Männer. Drei Kinder für jede türkische Frau? Vorausschauende Politik. Schließlich würde die europäische Bevölkerung in den kommenden Jahren altern.
Viele der Jüngeren sehen Erdogan kritisch. „Er muss verstehen, dass die Türkei nicht sein Königreich ist“, sagt ein junger Mann vor einem Kreuzberger Internetcafe. Und eine junge Frau sagt: „Es wird sich nichts ändern, wenn er nicht abtritt.“
Genau das hat Recep Tayyip Erdogan allerdings sicherlich nicht vor....
Cetin Demirci