Gasstreit zwischen Griechenland und der Türkei: Erdogan sieht sein Land als Führungsmacht – das entflammt den Konflikt neu
Die veränderte Selbstsicht der Türkei heizt den Streit im Mittelmeer an. Nun muss die NATO reagieren. Viel Zeit hat sie nicht. Ein Kommentar.
Der Gasstreit im östlichen Mittelmeer lässt den lange schlummernden Grenzstreit zwischen Türkei und Griechenland gefährlich eskalieren. Beide NATO-Partner beharren auf unrealistischen Maximalforderungen und bereiten sich auf militärische Auseinandersetzungen vor. Die aggressive neue Außenpolitik der Türkei und die Bildung einer anti-türkischen Allianz in der Region verhärten die Fronten.
Die Gründe für das türkisch-griechische Misstrauen werden sich nicht über Nacht aus der Welt schaffen lassen. Umso wichtiger ist es für EU und NATO, die Streithähne beim Wort zu nehmen, wenn sie ihre Bereitschaft zu Verhandlungen beteuern.
In dem neu aufgeflammten Konflikt geht es um die Vormachtstellung in einer weltpolitisch wichtigen Region. Wer im östlichen Mittelmeer stark ist, spielt im Syrien-Krieg ebenso mit wie in Libyen. Das Gas unter dem Meeresboden und die Nähe zum Suez-Kanal, einem Nadelöhr des Welthandels, machen das östliche Mittelmeer auch wirtschaftlich zu einer Schlüsselgegend.
Die seit fast hundert Jahren ungelösten Grenzstreitigkeiten zwischen Türkei und Griechenland in der Ägäis und im Mittelmeer waren nach einer Konfrontation um einen unbewohnten Felsen vor der türkischen Küste im Jahr 1996 wieder in den Hintergrund gerückt. Dass die Spannungen ausgerechnet jetzt wieder aufflammen, hat viel mit der veränderten Selbstsicht der Türkei zu tun.
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Präsident Erdogan sieht sein Land als regionale Führungsmacht, die in Syrien ebenso legitime Interessen hat wie in Libyen und die sich nicht scheut, diese auch gegen den Widerstand westlicher Partner durchzusetzen. Das macht die Nachbarn nervös. Griechenland, Zypern, Ägypten und Israel – allesamt Staaten, die Probleme mit Ankara haben – schlossen deshalb ein Bündnis, das die Gasvorräte unter dem Meer ohne Beteiligung der Türkei zu Geld machen will.
Die Türkei reagierte mit einem Seeabkommen mit der libyschen Regierung, das große Teile des östlichen Mittelmeeres kurzerhand zur türkischen Hoheitszone erklärte. Griechenland und Ägypten unterzeichneten darauf vorige Woche ihrerseits einen Vertrag über maritime Wirtschaftszonen, der die türkisch-libysche Vereinbarung für null und nichtig erklärte. Nun schickt die Türkei ihre Kriegsschiffe los, und die griechische Marine ist in Alarmbereitschaft.
Einen Krieg will eigentlich niemand
Zusätzlich angeheizt werden die Spannungen durch den Zypern-Konflikt und den Krieg in Libyen, wo die Türkei die Regierung in Tripolis unterstützt, während Griechenland und Ägypten auf der Seite von Rebellengeneral Haftar stehen.
In ihrer öffentlichen Rhetorik stellen sich Türken wie Griechen als Opfer dar, das trotz des angeblich unfairen Verhaltens der jeweiligen Gegenseite die Probleme am Verhandlungstisch lösen will. Darin liegt eine Chance für Europa und die NATO. Weder die Türkei noch Griechenland wollen einen Krieg: Die wirtschaftlichen und politischen Schäden einer solchen Auseinandersetzung wären zu groß.
Aufgepeitschte Stimmung könnte zu einem Pulverfass werden
Die Gefahr liegt darin, dass Politiker die Stimmung in ihren Ländern so aufpeitschen, dass ein Fehler oder ein Missverständnis wie ein Funke an einem Pulverfass wirken kann.
Der Westen hat ein starkes Interesse daran, dass dies nicht geschieht. Bundeskanzlerin Merkel hatte die Lage Ende Juli beruhigen können, doch das reichte nicht aus, um einen Verhandlungsprozess in Gang zu setzen. Die EU könnte versuchen, einen Dialog zu starten, hat aber aus türkischer Sicht ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil neben den Mitgliedern Griechenland und Zypern auch Frankreich fest im anti-türkischen Lager steht. Deshalb wird es wohl auf eine Vermittlungsaktion der NATO hinauslaufen. Die Allianz hat keine Zeit zu verlieren.