Türkei-Referendum: Erdogan scheint nicht mehr siegessicher
Eine neue Verfassung soll Erdogan noch mehr Macht verleihen. Jetzt räumt der türkische Präsident erstmals ein, dass die Sache auch schiefgehen kann.
Mehr als ein Dutzend landesweite Fernsehsender gibt es in der Türkei, doch in diesen Tagen läuft häufig überall dasselbe Programm. Präsident Recep Tayiip Erdogan, seine Regierungspartei AKP und die verbündete Nationalistenpartei MHP durften in den ersten zehn März-Tagen insgesamt 151 Stunden lang um die Zustimmung der Wähler zum Präsidialsystem bei der Volksabstimmung am 16. April werben. Die Opposition musste mit knapp 18 Stunden Sendezeit auskommen. Das ergab eine Zählung des regierungskritischen Verbandes DIB. Trotz der medialen Übermacht läuft es nicht richtig rund für Erdogan. Jetzt räumte er erstmals öffentlich die Möglichkeit eines Scheiterns ein.
In einem Interview des Senders CNN-Türk bekräftigte Erdogan seine Kritik an Deutschland und Europa, verteidigte seinen Plan zur Einführung eines Präsidialsystem mit drastisch erweiterten Machtbefugnissen für ihn selbst und zitierte Umfragen, nach denen die Zustimmung der Wähler zu seinem Projekt kontinuierlich ansteige. Soweit war alles Routine. Doch dann ließ der 63-Jährige erstmals einfließen, dass die Abstimmung im April aus seiner Sicht auch danebengehen könnte. Die Entscheidung liege bei den Wählern, sagte er. „Wenn sie sagen: ‚Ungeeignet‘, kann man nichts machen.“
Unzufriedenheit auch in der Regierungspartei
Der Satz ist aus mehrerlei Sicht bemerkenswert. So deutet Erdogan damit unter Umständen an, dass er eine Niederlage anerkennen würde. Noch interessanter ist jedoch, dass der Präsident die Möglichkeit einer Niederlage überhaupt in Betracht zieht. Hinter verschlossenen Türen soll sich der Präsident in den vergangenen Tagen sehr unzufrieden mit der Stimmung bei den Wählern im Kurdengebiet gezeigt haben, wo die Unterstützung für Erdogans Verfassungsreform angeblich unter 40 Prozent liegt. Der frühere AKP-Umweltminister Idris Güllüce sagte der Zeitung „Karar“, auch in der 15-Millionen-Metropole Istanbul überwiege die Ablehnung.
Die AKP sei verunsichert, schreibt der „Hürriyet“-Journalist Deniz Zeyrek. In der Partei herrsche nicht derselbe Optimismus wie vor den Volksabstimmungen von 2007 und 2010, die von der Erdogan-Partei gewonnen wurden. Dass Erdogan laut den meisten Umfragen am 16. April mit einer Mehrheit von rund 55 Prozent rechnen kann, gibt demnach das Stimmungsbild nicht richtig wieder. Die AKP-Wählerbasis sei für die Argumente gegen den Plan des Präsidenten empfänglich, analysierte Zeyrek.
Einige wenige Institute sagen seit Wochen eine Niederlage Erdogans voraus. Sie wollen bei den Anhängern der rechtsnationalen MHP, deren Führung den Plan des Präsidenten unterstützt, eine Ablehnungsrate von 70 Prozent gemessen haben. In der Wählerschaft der Erdogan-Partei AKP lehne jeder Zehnte die Einführung des Präsidialsystems ab. Viele haben noch nicht entschieden, wie sie am 16. April abstimmen wollen.
Den Umfragen kann man nicht trauen
Nach Einschätzung einiger Beobachter kann Erdogan den positiven Zahlen vieler Umfragen nicht trauen. Etyen Mahcupyan, ein ehemaliger Berater des von Erdogan geschassten Ex-Premiers Ahmet Davutoglu, sagte dem „Wall Street Journal“, viele Menschen hätten Angst davor, ihre wahre Absicht kundzutun und verschwiegen deshalb im Gespräch mit Meinungsforschern, dass sie am Wahltag mit „Nein“ stimmen wollten.
Selbst in grundsätzlich regierungsfreundlichen Zeitungen werden Zweifel an der AKP-Strategie laut. Diese basiert auf einer Verteufelung aller Gegner des Präsidial-Projekts als Landesverräter. Dagegen wurden die auch unter konservativen Türken verbreiteten Bedenken hinsichtlich eines Ein-Mann-Systems mit einem weitgehend entmachteten Parlament bisher ignoriert. Noch kann die AKP umsteuern: Erdogan hat vier Wochen Zeit, sich den Erfolg beim Referendum zu sichern.
Die Opposition verlegt sich auf kreative Arten des Wahlkampfs. Auf Twitter machen Hunderte Fotos von Menschen die Runde, die sich vor der Kamera so aufstellen, dass sie zusammen das Wort „Hayir“ – „Nein“ – bilden. Wie nervös die Regierung selbst auf harmlos erscheinende Aktionen reagiert, musste der 21-jährige Student Ali Gül erleben, der mit einem Video für ein „Nein“ im Internet einen Hit landete. Kurz darauf wurde er festgenommen.
Susanne Güsten