Die Eskalation nach dem Einmarsch: Erdogan antwortet mit Drohungen auf Kritik aus Europa
„Wir öffnen die Tore.“ Der türkische Präsident reagiert verärgert auf die Reaktionen auf seinen Syrien-Feldzug – und zieht die Flüchtlingskarte.
Recep Tayyip Erdogan fühlt sich in seinem Weltbild bestätigt: Die Türkei tut das Richtige, doch der Rest der Welt – und besonders der Westen – verleumdet das Land als Aggressor. Keine 24 Stunden nach Beginn der jüngsten Syrien-Intervention seiner Armee teilte Erdogan am Donnerstag an seine Kritiker aus. Saudi-Arabien habe den Krieg im Jemen zu verantworten und solle deshalb schweigen, der ägyptische Staatschef Abdal Fatah as Sisi sei ein „Mörder“. Ganz besonders wütend ist Erdogan auf die Europäer, die den Einmarsch nach Syrien scharf kritisiert hatten: „Wenn das so ist, dann ist ja alles ganz einfach: Wir öffnen die Tore.“ Um Millionen syrischer Flüchtlinge nach Europa zu schicken.
Erdogan und seine Regierung betrachten den Feldzug gegen die syrische Kurdenmiliz YPG als notwendigen Einsatz gegen eine Terrorgruppe. Zudem will die Türkei in Nord-Syrien eine „Sicherheitszone“ schaffen, um syrische Flüchtlinge dort anzusiedeln. Nach der Vorbereitung durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss am Vortag rückten in der Nacht zum Donnerstag erstmals türkische Bodentruppen und ankaratreue syrische Rebellenverbände über die Grenze ein.
Laut türkischen Angaben nahmen die Angreifer mehrere Dörfer auf der syrischen Seite der Grenze ein und vertrieben die YPG, den syrischen Ableger der Terrorgruppe PKK, aus diesen Gebieten. An einigen Stellen der Front seien YPG-Kämpfer geflohen. Auch um die syrisch-kurdische Stadt Kobane gab es laut Medienberichten türkische Luftangriffe.
Die YPG hatte im Jahr 2014 mit amerikanischer Unterstützung in Kobane einen Belagerungsring des Islamischen Staates durchbrochen – der damalige militärische Erfolg gegen die Extremisten markierte den Beginn der Zusammenarbeit zwischen den kurdischen Kämpfern und den USA. Die Türkei warf Washington vor, sich mit einer ankarafeindlichen Terrorgruppe eingelassen zu haben. Der Streit schwelte über Jahre und führte letztendlich zur türkischen Intervention am Mittwoch.
Der Vormarsch laufe planmäßig, teilte das türkische Verteidigungsministerium mit. Nach Erdogans Worten wurden in den ersten 24 Stunden des Krieges mehr als 100 YPG-Kämpfer getötet. Die Kurdenmiliz berichtete dagegen, ihre Truppen hätten türkische Angriffe zurückgeschlagen. Die YPG-Kämpfer waren von den USA für den Kampf gegen den Islamischen Staat ausgebildet und ausgerüstet worden. Sie sind der hochgerüsteten türkischen Armee zwar klar unterlegen, aber durchaus in der Lage, den Angreifern den Vormarsch zu erschweren.
Stärkt die türkische Invasion den Islamischen Staat in Syrien?
Auch Zivilisten kamen bei den Kämpfen zu Schaden. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete, ein türkischer Luftangriff habe einen Fahrzeug-Konvoy von Zivilisten in Syrien getroffen und mehrere Menschen verletzt. Kurdische Geschosse aus Syrien schlugen am Donnerstag in der türkischen Grenzstadt Akcakale ein und verletzten laut Medienberichten mindestens 17 Menschen. Tausende Bewohner des YPG-Gebietes fliehen vor den Gefechten nach Süden, etwa in die Stadt Rakka.
Gleichzeitig wurden Vorwürfe laut, die türkische Intervention stärke den Islamischen Staat in Syrien, der bisher von der YPG mit Unterstützung von US-Truppen in Schach gehalten worden war. Die amerikanischen Soldaten hatten sich auf Befehl von Präsident Donald Trump aus dem Kampfgebiet zurückgezogen; die YPG erklärte daraufhin, sie ziehe ihre Kämpfer aus dem Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) zurück, um sie in Gefechten gegen die anrückenden Türken aufzubieten.
Der US-Sender „CNN“ zitierte einen namentlich nicht genannten US-Regierungsvertreter mit den Worten, die türkische Intervention schade schon jetzt den Bemühungen, die Extremisten vom IS unter Kontrolle zu halten. „Wir schauen jetzt dabei zu, wie die zweitgrößte Armee der Nato unseren besten Verbündeten im Anti-Terror-Kampf angreift.“
Im Kongress in Washington werden Sanktionen gegen die Türkei vorbereitet. Frankreich bestellte am Donnerstag den türkischen Botschafter ins Pariser Außenamt ein, um gegen den Syrien-Einmarsch zu protestieren. Auch Israel verurteilte die türkische „Invasion“.
Zwei leitende Redakteure von Oppositionsmedien festgenommen
Erdogan wies jede Kritik an dem Feldzug zurück. Besonders verärgert reagierte er auf die Kritik aus Europa. „Hey, Europäische Union, komm mal zu dir“, sagte er. Erdogan bekräftigte den Vorwurf, die EU habe ihre finanziellen Zusagen aus dem Flüchtlingsabkommen zwischen Ankara und Brüssel nicht eingehalten. „Wir öffnen die Tore, nur damit ihr das wisst“, sagte Erdogan. Ob es sich um einen Wutausbruch des Staatschefs handelte oder um eine echte Drohung, blieb zunächst offen.
Auch innenpolitisch will Erdogan keine Einwände gegen den Syrien-Einsatz gelten lassen. Zwei leitende Redakteure von Oppositionsmedien wurden am Donnerstag festgenommen – offenbar wegen ihrer kritischen Berichterstattung. Insgesamt leiteten die Behörden fast 80 Ermittlungsverfahren gegen Verdächtige ein, die feindliche Propaganda über den Feldzug verbreitet haben sollen. Auch gegen mehrere Abgeordnete der Kurdenpartei HDP, darunter die Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan und Sezai Temelli, wird wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda ermittelt.