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Einer der Tatorte in Hanau.
© Thomas Lohnes / AFP

Rassistischer Terror in Hanau: „Er kam rein und hat alle Leute auf einer Seite getötet“

Tobias Rathjen tötete gezielt Menschen mit migrantischem Hintergrund – einer der Verletzten berichtet von dem Attentat. Aus der Türkei gibt es scharfe Kritik.

Bis auf die Mutter des Attentäters haben alle Opfer von Hanau einen migrantischen Hintergrund. Die meisten von ihnen haben türkische Wurzeln, offenbar sind aber auch ein Bosnier und eine Frau aus Polen getötet worden. Die Türkei warf Deutschland und anderen europäischen Staaten nach dem Attentat vor, im Umgang mit Fremdenhass und Islamophobie nicht hart genug durchzugreifen.

Türkei wirft Deutschland nach Hanau mangelnde Sensibilität vor

Hanau könne nicht als isolierter Fall betrachtet werden, erklärte das Außenministerium in Ankara am Donnerstag. „Mangelnde Sensibilität im Kampf gegen den wachsenden Fremdenhass in Europa führt jeden Tag zu neuen Anschlägen.“

Auch der in Köln aufgewachsene türkische Parlamentsabgeordnete Mustafa Yeneroglu, der sich für die Belange der Türken in Deutschland einsetzt, warf den deutschen Behörden vor, Muslime nicht genügend zu schützen. „Obwohl wöchentlich durchschnittlich zwei Moscheen angegriffen werden, verharmlosen die Innenminister die Gefahr und ignorieren die Rufe nach Polizeischutz“, sagte Yeneroglu dem Tagesspiegel in Istanbul. „Die türkische Gesellschaft in Deutschland ist seit längerem äußerst besorgt über den zunehmenden, vor allem auch gesamtgesellschaftlich Fuss fassenden Rassismus.“

Ömer Celik, Sprecher der Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan, sagte, der Faschismus nehme „Schritt für Schritt“ ganz Europa ein und wolle die politischen Werte des Kontinents vernichten. Damit sei der Faschismus „der IS Europas“, sagte Celik in Anspielung auf die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS), der zwischen 2014 und 2019 große Teile von Syrien und Irak erobert hatte.

Erdogan selbst äußerte sich sehr zurückhaltend. In einer Rede sprach er den Angehörigen der türkischen Opfer sein Beileid aus und sagte, die türkische Botschaft in Berlin und andere türkische Stellen verfolgten die Entwicklung. Der türkische Präsident fügte hinzu, er vertraue den deutschen Sicherheitsbehörden. „Ich glaube, dass die deutschen Behörden alles tun werden, um alle Aspekte aufzuklären.“

Rathjen schoss offenbar gezielt auf türkische Gäste

Bei dem Anschlag von Hanau hatte der Täter Tobias Rathjen Augenzeugenberichten zufolge auf türkische Gäste und Angestellte eines Schnell-Imbisses geschossen. Imbiss-Besitzer Kemal Kocak sagte der Zeitung „Hürriyet“, der Todesschütze habe zunächst auf drei türkische Gäste gefeuert, die beim Essen saßen und danach auf den türkischen Kellner Gökhan G. Anschließend sei der Täter nebenan in die „Arena“-Bar gegangen und habe dort einen 20-jährigen Türken, einen 20-jährigen Bosnier und eine polnische Kellnerin getötet.

Der türkische Nachrichtensender A-Haber zeigte ein Interview mit einem verletzten türkischen Anschlagsopfer aus einem Krankenhaus. Der junge Mann, der seinen Namen mit Mohammed angab, sagte den Reportern, er habe in dem Imbiss auf sein Essen gewartet und den Schützen hereinkommen sehen. Zu dem Zeitpunkt seien etwa zwölf Menschen in dem Imbiss gewesen.

Auch Schwangere soll unter den Opfern von Rathjen sein

„Der Mann kam rein und hat alle Leute auf einer Seite getötet“, sagte Mohammed. „Dann kam er auf uns zu.“ Der Täter habe einen Mann neben ihm niedergeschossen und ihn selbst in der rechten Schulter getroffen. Auf dem Boden sei er auf ein anderes Opfer gefallen, ein weiteres Opfer stürzte auf ihn.

Bei einem Jungen habe er ein Einschussloch im Hals gesehen. Der Junge habe geschrien, „aber außer uns zwei war keiner mehr da.“ Nach einem Bericht der „Bild“ soll unter den von Tobias Rathjen getöteten Menschen auch eine schwangere Frau gewesen sein.

Yeneroglu, der als Abgeordneter unter anderem den Münchner NSU-Prozess beobachtet hatte, forderte, nach dem Anschlag von Hanau müssten „konkretere Taten folgen, die wir trotz NSU und trotz der Zusagen damals nach wie vor vermissen“. Auch heute noch würden „islamische Gemeinschaften marginalisiert und in fast allen Parteien durchweg mit Argwohn betrachtet“.

Der türkische Abgeordnete sagte weiter, in deutschen Sicherheitsbehörden säßen etliche Sympathisanten rechter Strömungen. „Die Unterstützer von Rassisten bei den Sicherheitsbehörden sind zu oft gedeckt worden“, sagte Yeneroglu. „Der institutionelle Rassismus ist nicht im Geringsten angegangen worden. Die AfD ist bei den Sicherheitsbehörden bestimmt nicht weniger beliebt, als ihre Stimmen es bezeugen.“

NRW-Integrationsrat sagt, Rassismus sei wieder salonfähig geworden

Dass der Rassismus in Deutschland irgendwann einmal in Gewalt umschlagen würde, sei jedem klar gewesen, kritisierte Yeneroglu: „Gerade in Hessen“, fügte er mit Blick auf den NSU-Mord in dem Bundesland, die Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke und die Drohungen gegen die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz hinzu. „Der Rassismus gegenüber Muslimen ist politisch nicht geächtet“, sagte Yeneroglu.

Der Vorsitzende des Integrationsrats NRW, Tayfun Keltek, kritisierte: „Rassistische Aussagen und Denkweisen sind längst wieder salonfähig geworden.“ Eine „einseitige, negative Darstellung“ von Migranten und Muslimen ziehe sich wie ein roter Faden durch die Berichterstattung. „Bilder von „Sozialschmarotzern“, Clankriminellen, Islamisten und Integrationsunwilligen werden beschworen. Das leistet der beängstigenden Entwicklung des Rassismus enormen Vorschub.“

Susanne Güsten

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