Gregor Gysi tritt ab: Ende einer Ära: Was wird aus der Linkspartei?
Gregor Gysi zieht sich zurück. Die Reformer in der Linkspartei hoffen aber, dass er weiter Einfluss nimmt – auch bei seiner Nachfolge. Dass jetzt Rot-Rot-Grün im Bund wahrscheinlicher wird, halten viele allerdings für unwahrscheinlich.
Sie ist intoniert wie eine Abschiedsrede. Und zeitweilig kommen Gregor Gysi sogar die Tränen. Nach fast 25 Jahren an der Spitze der Linken – mit nur kurzer Unterbrechung – tritt deren prominentester Politiker zurück, wenigstens einen Schritt. Gysi wird im Oktober bei der turnusmäßig geplanten Wahl nicht erneut als Fraktionsvorsitzender antreten. Im Bundestag will er bleiben, auch eine erneute Kandidatur bei der Wahl 2017 schließt er nicht aus. Vielleicht sogar wieder als Spitzenkandidat? Auch das ist nicht völlig unmöglich.
Wer wird Gysi nun nachfolgen? Voraussichtlich seine beiden Stellvertreter, der Reformer Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht, die Frontfrau des linken Parteiflügels. Das Vorschlagsrecht haben formal die beiden Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger. Formal. Praktisch hat Gysi schon vor dem Parteitag deutlich gemacht, dass er eine Doppelspitze aus Bartsch und Wagenknecht favorisiert.
Bundesminister will er nicht mehr werden
Fast eine Stunde lang spricht Gysi. Er hatte seine Genossen zuvor lange auf die Folter gespannt. Eine Entscheidung wolle er verkünden, nur das war vor Sonntagmittag sicher. In vielen Interviews entschied sich das Gysi-Orakel für immer wieder neue Sätze, die in beide Richtungen interpretierbar waren. Klar ist nun, was Gysi nicht (mehr) will – zum Beispiel Bundesminister werden oder einer Delegation angehören, die über eine rot-rotgrüne Regierung im Bund verhandelt.
Dass eine solche Regierung denkbarer als bisher wird, ist allerdings sehr wohl Gysis ausdrücklicher Wunsch. Und an den Vorbereitungen dazu will er durchaus Anteil haben, möglicherweise mit neuem Schwerpunkt im außenpolitischen Arbeitskreis der Fraktion. 90 Prozent der Wähler wünschten sich, dass die Linke in einer Regierung Verantwortung übernehme, sagt Gysi. Es sei Zeit, den nächsten Schritt zu gehen und "alle Formen des politischen Agierens in den Ländern und im Bund als selbstverständlich wahrzunehmen, als Normalfall unserer politischen Arbeit zu begreifen".
Ein omnipräsenter Ex-Vorsitzender?
Ein Satz in der Gysi-Rede ist besonders interessant: Er könne sich nun "völlig frei" zu einer möglichen Regierungsmitverantwortung im Bund äußern. Anders also als bisher, als er die Flügel der Fraktion zusammenhalten musste. Was mal besser, mal schlechter gelang. Die im Forum demokratischer Sozialismus (FdS) organisierten Reformer der Partei hoffen jetzt, dass Gysi für sie künftig eher noch wichtiger wird als bisher. "Er wird omnipräsenter sein, als er das als Bundestagsfraktionsvorsitzender war", erklärt deren Chef Dominic Heilig. Und betont: Gysi werde "weit mehr" sein als nur einer von 64 Abgeordneten.
Für das mögliche künftige Spitzenduo aus Bartsch und Wagenknecht ergibt sich daraus eine nicht ganz unkomplizierte Lage. Die Kandidatur der beiden für den Fraktionsvorsitz gilt als wahrscheinlich, auch wenn sich beide am Sonntag nicht definitiv festlegten. Wagenknecht hatte im März in der festen Erwartung, dass Gysi im Herbst ein weiteres Mal für den Fraktionsvorsitz kandidiert, ihren Verzicht erklärt, in den Wochen danach war sie mehrfach mit Gysi aneinandergeraten. Die Partei würde wohl akzeptieren, dass sie von ihrem Nein wieder abrückt. Als Vize-Fraktionschefs haben Wagenknecht und Bartsch sich zusammengerauft, ihre bisherige Zusammenarbeit beschreiben beide als gut.
Länger zögern würde Wagenknecht, wenn ihr auch in den nächsten Tagen nicht klar wird, welche Rolle Gysi künftig tatsächlich einnehmen wird. Will er als "heimlicher Über-Vorsitzender" weiter die Geschicke der Linken führend bestimmen und den beiden Fraktionschefs nur das „operative Geschäft“ überlassen? Gysi selbst versichert dazu, es sei für ihn "selbstverständlich", dass er "nicht heimlich versuchen werde, die Fraktion auf indirekte Art weiter zu leiten". Die Anhänger von Wagenknecht in der Partei - es sind nicht wenige - werden Bedenken ihres Idols wohl ohnehin nicht gelten lassen und sie drängen, die Chance auf das Aufrücken in die erste Reihe auf jeden Fall zu ergreifen.
Wagenknecht will sich "zeitnah" erklären
Auch Stefan Liebich, einer der Wortführer des Reformerflügels, könnte damit gut leben. Wagenknecht sei "eine unserer profiliertesten Politikerinnen", lässt er in einer ersten Reaktion wissen – und spricht mit Blick auf Gysi vom "Ende einer Ära". Er hoffe, dass Wagenknecht ihre im März getroffene Entscheidung zum Verzicht auf den Fraktionsvorsitz überdenke und „mit Bartsch ein starkes Team“ bilde. Die 45-Jährige selbst sagt, dass nun eine "völlig neue Situation" entstanden sei – nach Beratungen mit Bartsch werde sie "zeitnah" entscheiden.
Vor dem Parteitag waren aus dem Umfeld der Parteiführung als mögliche Gysi-Nachfolger auch die Namen der Innenpolitikerin Martina Renner und des Verteidigungspolitikers Jan van Aken ins Gespräch gebracht worden. Belegt werden sollte so, dass die Linke ein größeres Personaltableau hat, das für Führungsaufgaben geeignet ist, mehr als die bekannten Talkshow-Gesichter. Dass Renner und van Aken im Herbst zu neuen Fraktionschefs gewählt werden, ist dennoch unwahrscheinlich, zumal van Aken schon vor längerer Zeit erklärt hat, 2017 nicht erneut für den Bundestag zu kandidieren. Davon will er auch nicht abrücken.
Ob Rot-Rot-Grün 2017 im Bund nun noch weniger Chancen hat? Für diese Option stand es noch nie besonders gut. So viel schlechter kann es also gar nicht werden, wenn Wagenknecht den Fraktionsvorsitz übernehmen sollte. Linken-Chef Riexinger sagte in Bielefeld, es gebe "gerade wichtigere Themen", als zwei Jahre vor der nächsten Bundestagswahl über diese Option zu diskutieren. Und dass die SPD nach der Bundestagswahl 2013 die Chance zum Politikwechsel nicht genutzt habe.
Für ein Bündnis mit der SPD bereit?
Die Wortwahl der Linken, vorgegeben von Gysi, heißt: Die Linke sei bereit, Motor für ein rot-rot-grünes Reformprojekt zu werden. Riexinger hatte dazu vor der Gysi-Rede erklärt, es brauche dafür "keine Aufweichung unserer Haltelinien", in denen die Partei ihre Bedingungen für Regierungsbeteiligungen festgelegt hat. Gysi dürfte in Zukunft mehr denn je die Rolle zukommen, darauf zu drängen, dass sich seine Partei grundsätzlich kompromissbereiter als bisher zeigt. Er betont in seiner Rede, dass er "Haltelinien jeglicher Art" für falsch hält. Der Applaus der Delegierten zu dieser Passage bleibt verhalten.
Die Linke sieht das Problem auch im gegenwärtigen Personal der SPD. In ihrer umjubelten Rede sagte Wagenknecht am Samstag, es falle ihr "wirklich schwer", in Parteichef Sigmar Gabriel einen Partner für einen Politikwechsel zu sehen. Im Gespräch mit dem "Spiegel" hatte sie versichert, sie habe "überhaupt nichts gegen Regieren, wenn es mit einer Politik verbunden wäre, die erstmals seit Langem die Ungleichheit in Deutschland wieder reduziert statt vergrößert".
"Desperados im Zaum halten"
Vertreter des linken SPD-Flügels betonen hingegen, dass sie mit einem Führungswechsel von Gysi zu Wagenknecht Probleme haben. Parteivize Ralf Stegner, der sich als Mann für die Kontakte zur Linkspartei sieht, attestiert Gysi "Regierungswilligkeit – ohne ihn wäre ein rot-rot-grünes Bündnis noch viel schwerer anzugehen". Auch könnte Gysi laut Stegner eine wichtige Rolle spielen, "die Desperados in seiner Partei im Zaum zu halten". Der Sozialpolitiker Karl Lauterbach ätzte im Kurznachrichtendienst Twitter: "Wagenknecht knechtet ihre Partei in die Bedeutungslosigkeit, Selbstgerechtigkeit." Und der SPD-Außenpolitiker Niels Annen erklärt: "Mit Gysi verlässt ein großer kleiner Mann die politische Bühne. Sein(e) Nachfolger werden wohl schnell erkennen, wie schwer ihre Aufgabe ist."
Die Grünen, die mit der Linken die Oppositionsbänke im Bundestag teilen, meinen, dass ein Führungswechsel in der Linksfraktion durchaus auch Vorteile bringen kann. "Gysi war meisterhaft darin, innerlinke Konflikte unter den Teppich zu kehren", sagte Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner dem Tagesspiegel. "Diese Rolle gibt er auf." Jetzt könne die Linke ihre ungeklärte Richtungsfrage angehen – "weiter mit SPD-Verachtung in Daueropposition oder Arbeiten an progressiver Reformpolitik".