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Der damalige Wirtschaftsminister, Wolfgang Clement (SPD), Bundeskanzler Gerhard Schröder und VW-Manager Peter Hartz stellen die Arbeitsmarktreform vor.
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Zehn Jahre Arbeitsmarktreform: Einmal Hartz IV, immer Hartz IV

Es war die folgenreichste Sozialreform seit dem Zweiten Weltkrieg. Das „vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ wurde nach seinem Erfinder benannt, dem VW-Manager Peter Hartz. Zehn Jahre nach der Einführung ist es noch immer umstritten.

Seine Wiederwahl als Bundeskanzler hatte Gerhard Schröder knapp geschafft. Im Herbst 2002 lag die Zahl der Arbeitslosen bei vier Millionen, die Wirtschaft schwächelte, die Arbeitsämter waren wegen geschönter Vermittlungsstatistiken im Verruf. Schröder machte die Reform des Arbeitsmarktes zur Chefsache: Er werde sich persönlich darum kümmern, dass die Vorschläge des VW-Managers Peter Hartz „eins zu eins“ umgesetzt würden, kündigte der Bundeskanzler nach der ersten Kabinettssitzung im Oktober 2002 an, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Wirtschaftsminister Wolfgang Clement und mit VW-Mann Hartz. Bis es so weit war, dauerte es noch eine Weile, auch weil Rot-Grün auf die Zustimmung des CDU/CSU-dominierten Bundesrats angewiesen war. Vor zehn Jahren schließlich, am 1. Januar 2005, trat das „vierte Gesetz zur Modernisierung des Arbeitsmarktes“ in Kraft, das unter dem Namen Hartz IV bekannt wurde.

Der Druck sich einen Job zu suchen, ist gestiegen

Hartz IV hat den deutschen Wohlfahrtsstaat stärker verändert als jede andere Sozialreform nach dem zweiten Weltkrieg. Zum einen, weil Arbeitslosen mehr abverlangt wurde, wenn sie staatliche Unterstützung erhalten wollten. Aber auch, weil die Reform Verunsicherung bis in die Mittelschicht mit sich brachte. Auch Facharbeiter und Ingenieure mussten sich fortan vor einem möglichen Absturz fürchten. Denn nach einem Jahr Arbeitslosigkeit, bei Älteren spätestens nach 18 Monaten, wurde seitdem nur noch Hartz IV gezahlt, während es früher bis zu drei Jahre das lohnabhängige Arbeitslosengeld I gab. „Der Druck, sich schnell einen neuen Job zu suchen, ist gestiegen, aber auch die Bereitschaft, mehr Zugeständnisse zu machen, etwa bei der Bezahlung“, sagt Professor Joachim Möller vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Hartz IV war der zentrale Baustein von Schröders Agenda 2010, die er im Frühjahr 2003 im Bundestag vorstellte. „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen“, kündigte er damals an. Seine Reformen polarisierten. Aus Protest gegen die umstrittenen Regierungspläne wurden im Osten die Montagsdemonstrationen wiederbelebt. Im Westen bekam die „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG) Zulauf, die von enttäuschten Gewerkschaftern und Sozialdemokraten gegründet wurde. Als der frühere SPD-Chef Oskar Lafontaine sich der WASG anschloss, war der Weg für eine gesamtdeutsche Linkspartei frei. Bei der vorgezogenen Neuwahl im Herbst 2005 schafften PDS und WASG gemeinsam den Einzug in den Bundestag.

Inzwischen wurde das Gesetz achtmal novelliert

Den Entwurf für die umstrittene Arbeitsmarktreform hatte der VW-Manager Hartz kurz vor der Wahl geliefert. Die Politik übernahm viele der Kommissionsvorschläge, wenn auch nicht alle „eins zu eins“ umgesetzt wurden. So wurde die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt, allerdings nicht auf dem Niveau der Arbeitslosenhilfe, wie Hartz angeregt hatte, sondern auf dem niedrigeren Niveau der Sozialhilfe. Anfang 2005 lag der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen bei 345 Euro im Monat, inzwischen ist er auf 391 Euro gestiegen. Doch nicht nur der Regelsatz änderte sich seit der Einführung, Hartz IV ist zur Dauerbaustelle geworden. Inzwischen steht die neunte Gesetzesnovelle bevor.

Umstritten ist Hartz IV bis heute, weil es die Betroffenen gezwungen hat, gegenüber dem Amt ihr Leben offenzulegen. Wer als hilfebedürftig eingestuft werden will, muss detailliert Auskunft geben über Einkommen und Vermögen, auch über das des Partners, der in der „Bedarfsgemeinschaft“ lebt, wie es im Behördendeutsch heißt. Wohnungen werden nur bis zu einer festgelegten Größe und Miethöhe finanziert. Mit Hartz IV wurde außerdem das Prinzip des „Forderns und Förderns“ etabliert: Wer Grundsicherung bekommen will, muss bereit sein, eine Arbeit anzunehmen, die unterhalb der Qualifikation liegt oder schlechter bezahlt ist. Wer zumutbare Arbeit ablehnt, die vereinbarten Meldetermine beim Jobcenter versäumt oder nicht genügend Bewerbungen nachweisen kann, dem drohen Sanktionen.

Hartz IV brachte für Sozialhilfeempfänger auch Verbesserungen

Für einen Teil der Arbeitslosen brachte Hartz IV materielle Verschlechterungen, für andere aber auch Verbesserungen. „In der alten Sozialhilfe mussten die Leute beim Amt darum bitten, einen neuen Wintermantel zu bekommen. Das war entwürdigend. Die pauschalen Geldleistungen, die mit Hartz IV gezahlt wurden, waren für viele eine Erleichterung“, sagt IAB-Forscher Möller. Der Kreis der Hartz-IV-Berechtigten wurde bei der Einführung der Reform sehr weit gefasst, so dass viele Sozialhilfeempfänger Anspruch auf die neue Leistung hatten. Als erwerbsfähig galt demnach, wer mindestens drei Stunden am Tag arbeiten konnte. „In anderen Ländern werden viel größere Personengruppen als erwerbsunfähig deklariert. Aus unseren Befragungen wissen wir aber, wie wichtig für viele Menschen die Teilnahme am Erwerbsleben für ihr Wohlbefinden ist“, sagt Möller.

Nachbarländer schauen neidisch auf Reform

Doch während Hartz IV hierzulande in weiten Teilen der Bevölkerung kein gutes Image hat, schauen europäische Nachbarländer zum Teil neidisch auf das deutsche Beschäftigungswunder. Seit dem Start der Arbeitsmarktreform ging die Arbeitslosigkeit deutlich zurück: Zwischen 2005 und 2013 sank sie im Jahresdurchschnitt von 4,9 Millionen auf knapp drei Millionen, ein Minus von knapp 40 Prozent. Auch die Zahl der arbeitslosen Hartz-IV-Empfänger sank im selben Zeitraum um knapp 30 Prozent, von 2,8 Millionen auf knapp zwei Millionen. Gleichzeitig stieg die Zahl der Erwerbstätigen. Welchen Anteil die Hartz-Reformen daran gehabt haben, ist bis heute nicht eindeutig zu beziffern. Für den positiven Trend am Arbeitsmarkt machen Forscher die starke Konjunktur vor der Finanz-und Wirtschaftskrise 2008/2009 und nach deren Abebben verantwortlich, sowie die jahrelange Lohnzurückhaltung der deutschen Gewerkschaften. Doch Hartz IV hat auch zu einer höheren Dynamik am Arbeitsmarkt geführt, sowie zu einer höheren Konzessionsbereitschaft der Arbeitslosen. „Die positiven Effekte auf den Arbeitsmarkt überwiegen. In Deutschland hatten wir das Glück, dass durch den Aufschwung die Erfolge sehr schnell sichtbar wurden“, urteilt Arbeitsmarktforscher Möller.

Niedriglohnsektor großes Problem

Bei anderen Wissenschaftlern fällt das Urteil weniger positiv aus. Zu den härtesten Kritikern gehört der Kölner Politologe Christoph Butterwegge. Zum zehnjährigen Jubiläum hat er ein Buch veröffentlicht, in dem er mit der Reform abrechnet. Deutschland sei durch Hartz IV „zu einer anderen Republik“ geworden, schreibt Butterwegge. „Ein ausufernder Niedriglohnsektor, der bald fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasste, gehörte ebenso zu den Folgen wie Entsolidarisierung und die Verbreitung sozialer Eiseskälte“, lautet sein Fazit über die umstrittene Reform.

In der Tat ist der Niedriglohnsektor in Deutschland inzwischen so groß wie in keinem anderen europäischen Land. Ob sich diese Entwicklung allein auf die Hartz-Reformen schieben lässt, ist aber ebenfalls umstritten. Mit den Arbeitsmarktreformen wurden zwar die Minijobs in Deutschland ausgeweitet und die Leiharbeit flexibilisiert. „Der Anstieg des Niedriglohnsektors wird oft Hartz IV zugeschrieben. Dieser hat aber schon seit 1995 eingesetzt“, sagt IAB-Forscher Möller. Hartz IV sei nicht die Ursache des Anstiegs gewesen, die Reformen hätten allenfalls „eine gewisse Beschleunigung“ gebracht.

Es ist schwer aus Hartz IV herauszukommen

Zu den Schattenseiten von Hartz IV gehört, dass längst nicht alle Arbeitslosen von der positiven Arbeitsmarktentwicklung im letzten Jahrzehnt profitiert haben. Unter den Hartz-IV-Empfängern lassen sich zwei Gruppen unterscheiden. Da gibt es zum einen diejenigen, die kurzfristig auf Hartz IV angewiesen sind aufgrund besonderer Lebenslagen. Etwa weil sie alleinerziehend sind und die Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen. Oder weil sie Angehörige pflegen und deshalb vorübergehend dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen. Es gibt aber auch diejenigen, bei denen die Arbeitslosigkeit verfestigt ist. Sie haben grundsätzliche Probleme, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, weil ihnen der Schulabschluss oder eine Ausbildung fehlen. Sie gelten auch in guten Konjunkturzeiten als schwer vermittelbar, weil sie starke gesundheitliche Probleme haben, schlechte Deutschkenntnisse vorweisen können oder von den Arbeitgebern als zu alt aussortiert werden. In den Jobcentern spricht man in diesen Fällen von „mehreren Vermittlungshemmnissen“. Für sie ist es besonders schwer, aus Hartz IV rauszukommen, wie die Statistiken zeigen. Etliche von ihnen schaffen es nur vorübergehend. Für sie gilt der ernüchternde Befund: „Einmal Hartz IV, immer Hartz IV.“

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