Streit um den Begriff des Völkermords an Armeniern: Das Problemwort
Das EU-Parlament, Frankreich, die Niederlande, der Papst – sie sehen in den Massakern an den Armeniern 1915 einen Völkermord. Deutschland hält sich mit diesem Begriff aus Rücksicht auf die Türkei noch zurück. Doch kurz vor dem 100. Jahrestag gibt es Bewegung.
Kurz vor dem 100. Jahrestag des Beginns der Massaker an den Armeniern im zerfallenden Osmanischen Reich eskaliert der Streit über die Frage, ob es sich bei den Todesmärschen, Deportationen und Massentötungen, die am 24. April 1915 begannen, um einen geplanten Genozid handelte. Auch in Deutschland wird darüber derzeit heftig debattiert. Vor allem die Bundesregierung gerät in Bedrängnis.
Was passiert ist
Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges lebten rund zwei Millionen christliche Armenier im Osmanischen Reich, nach dem Krieg waren es weniger als eine halbe Million. Siedlungsschwerpunkte der Armenier waren Istanbul und mehrere Regionen in Mittel- und Ostanatolien, viele waren Händler oder Geschäftsleute. Im Jahr 1915 ordnete die osmanische Regierung die Umsiedlung der Armenier an; die ersten Verhaftungen fanden am 24. April statt. Deportationen, Massaker und Todesmärsche kosteten Hunderttausende das Leben. Armenien geht von 1,5 Millionen Toten aus, die Türkei setzt die Zahl der Opfer weit niedriger an. Tausende Überlebende der Massaker wurden von muslimischen Familien aufgenommen oder traten zum Islam über. Erst seit der Enttabuisierung des Themas vor einigen Jahren entdecken viele Türken, dass sie armenischer Abstammung sind. Heute leben weniger als 100.000 Armenier in der Türkei.
Wie die Türkei darüber denkt
Die Türkei gibt zu, dass die Armenier sehr gelitten haben. Ankara zufolge leitete die osmanische Reichsregierung die Zwangsumsiedlung als Antwort auf die Kollaboration armenischer Rebellen mit den im Osten vorrückenden russischen Truppen an. Der nationalistische Historiker Yusuf Halacoglu, ein ehemaliger Vorsitzender der Türkischen Gesellschaft für Geschichte, argumentiert, die Armenier hätten das Osmanen-Reich "hinterrücks angegriffen".
Obwohl die Osmanen eine geordnete Umsiedlung geplant hätten, seien durch die Kriegsbedingungen sowie "Banditentum, Hunger, Seuchen und die allgemeine Gesetzlosigkeit eines kollabierenden Staatsapparats" viele Menschen getötet worden – so formuliert das türkische Außenministerium. Zudem betont Ankara, dass auch viele muslimische Türken ums Leben kamen. Manche Politiker, darunter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, vertreten die Ansicht, dass die Zahl der muslimischen Opfer mindestens so hoch war wie die der christlich-armenischen.
Was Historiker dazu sagen
Die meisten Fachleute zweifeln an dieser Darstellung. Sie weisen darauf hin, dass die osmanische Regierung eine dauerhafte Entfernung der Armenier aus Anatolien anstrebte, nicht eine vorübergehende Vertreibung. Historiker wie Mehmet Polatel von der Istanbuler Koc-Universität unterstreichen, dass fast gleichzeitig mit der Vertreibung der Armenier die Verteilung von deren Besitz an Muslime begann – und zwar auf Grundlage staatlicher Verordnungen. Für Polatel ist das ein klarer Beweis dafür, dass die Armenier nicht umgesiedelt, sondern getötet werden sollten.
Ein Großteil der internationalen Forschung geht ebenfalls davon aus, dass die osmanische Reichsregierung den Tod vieler Menschen zumindest billigend in Kauf nahm. Ausländische Diplomaten, Missionare und andere Zeitzeugen, darunter auch deutsche, beobachteten die Verbrechen. Der damalige US-Botschafter Henry Morgenthau beschrieb die Deportationen als "Todesurteil für eine ganze Rasse". Osmanische Regierungsvertreter hätten auch kein großes Geheimnis aus ihrer Absicht gemacht.
Wie die Türkei mit dem Thema umgeht
In der Türkei war das Thema Genozid lange Zeit ein Tabu. Erst die Erweiterung der Meinungsfreiheit im Zuge der türkischen EU-Bewerbung ermöglichte im vergangenen Jahrzehnt eine Debatte. Zunächst versuchten Nationalisten jedoch, dies zu verhindern: Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und andere kamen wegen "Beleidigung des Türkentums" vor Gericht, der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink wurde ermordet.
Seit einigen Jahren kann das Thema aber größtenteils frei diskutiert werden. Zum Jahrestag am 24. April werden Gedenkkundgebungen veranstaltet, ein Buch des Journalisten Hasan Cemal mit dem Titel "1915: Armenischer Völkermord" wurde im Jahr 2012 zu einem Bestseller. Als Ministerpräsident gedachte Erdogan im vergangenen Jahr erstmals offiziell des Leids der Armenier. Zudem schlug er die Bildung einer unabhängigen Historikerkommission vor, die in den Archiven der Türkei, Armeniens und von Drittstaaten forschen soll. Sein Land sei bereit, sich dem Urteil der Fachleute zu beugen, sagte Erdogan. Armenien lehnte den Vorschlag als billiges Ablenkungsmanöver ab.
Was das türkische Volk meint
Für viele Türken ist das Wort Genozid unannehmbar. Die beiden großen Oppositionsparteien im türkischen Parlament, die säkulare CHP und die nationalistische MHP, unterstützen die scharfen Reaktionen der Regierung nach den Äußerungen des Papstes und der Resolution des EU-Parlaments. Lediglich die Kurdenpartei HDP, die bei der anstehenden Parlamentswahl am 7. Juni linksliberale Wähler umwirbt, will sich der gemeinsamen Haltung der anderen Parteien nicht anschließen.
In der Debatte ist von türkischer Seite oft zu hören, dass im Ersten Weltkrieg und davor auch viele Muslime Opfer von Verbrechen wurden, ohne dass die Welt von Völkermorden spricht. Selbst aufgeklärt-liberale Intellektuelle wie der Autor Mustafa Akyol betonen, dass das Schicksal der Armenier nicht einzigartig war in den blutigen Zeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In einem offenen Brief an den Papst unterstrich Akyol, er selbst stamme von Tscherkessen ab, die im 19. Jahrhundert im Kaukasus vom damaligen Russischen Reich abgeschlachtet wurden.
Wie Deutschland diskutiert
Die Regierung und die Koalitionsfraktionen haben sich im Gegensatz zu Grünen und Linken bisher nicht durchringen können, die Massaker als „Völkermord“ zu benennen. Offenbar will der Bundestag die Massaker bei der Debatte am Freitag nun doch so bezeichnen. An einer entsprechenden Formulierung werde derzeit in der großen Koalition gearbeitet, sagte der für Außenpolitik zuständige Unions-Fraktionsvize Franz Josef Jung (CDU) der „Saarbrücker Zeitung“: „Wir werden jetzt eine Formulierung finden, die die Tatsache des Völkermordes, der in der Türkei vor 100 Jahren stattgefunden hat, auch mit Namen nennt.“
Außenminister Frank-Walter Steinmeier ging auf Kritiker im Bundestag zu. Man könne das, was damals geschehen sei, “in dem Begriff des Völkermords zusammenfassen wollen“, sagte Steinmeier der "Süddeutschen Zeitung". Er könne die Gründe dafür und die Gefühle dazu gut verstehen. Damit räume der Minister den Bundestagsabgeordneten mehr Freiheiten ein, die das türkische Vorgehen in einem Entschließungsantrag des Bundestags am Freitag als Völkermord bezeichnen wollen.
Manch einer fordert außerdem, in der Debatte auch die Verantwortung des Deutschen Kaiserreichs anzusprechen. Das Kaiserreich war der engste Verbündete des Osmanischen Reichs und wusste nachweislich von den Massakern.
Wie andere Staaten damit umgehen
Mehrere Länder in Europa, darunter Frankreich, Italien, die Schweiz, Griechenland und Russland, haben den Genozid offiziell anerkannt. In einigen ist es sogar gesetzlich verboten, den Völkermord zu leugnen. Häufig sind die Parlamente eher bereit, entsprechende Entschließungen zu verabschieden als die Regierungen. So spricht das EU-Parlament bereits seit 1987 von einem Völkermord, die EU-Kommission jedoch nur von einer "Tragödie". Westliche Regierungspolitiker sind besorgt, dass eine Verdammung des Völkermordes die Beziehungen zum wichtigen Verbündeten Türkei schwer belasten könnte.
Einen besonderen Stellenwert hat für die Türkei die Haltung der US-Regierung. Bisher hat Präsident Barack Obama in Gedenkbotschaften zum Armenier-Jahrestag das Wort "Genozid" vermieden. Nach den klaren Worten des Papstes und der Annahme der neuen Resolution im EU-Parlament wird nun über eine Änderung in Obamas Haltung spekuliert. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu besucht deshalb kurz vor dem Jahrestag die US-Hauptstadt.