Ex-Bundestagspräsident Lammert im Interview: "Eine virtuelle Sprachbehörde würde ich mir ungern vorstellen"
Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) spricht im Interview über politische Korrektheit und die Verantwortung für das, was man sagt.
Herr Lammert, lassen Sie uns über Sprache als Instrument der Politik reden. Politik besteht ja nicht nur in Gesetzen und Entscheidungen, sondern vermittelt sich über Reden, Texte und Diskussionsbeiträge. Teilen Sie eigentlich die Sorge, dass die dabei benutzte Sprache in letzter Zeit rauer geworden ist, ja streckenweise regelrecht verroht?
Im Grundsatz schon – allerdings mit der Einschränkung, dass das so neu nun auch wieder nicht ist, wie gelegentlich behauptet wird. Aber dass unter den gründlich veränderten Bedingungen der Wahrnehmung und der medialen Vermittlung von Sachverhalten die Versuchung, vielleicht sogar die Notwendigkeit noch größer geworden ist, komplexe Vorgänge zu vereinfachen, zuzuspitzen, zu dramatisieren, ja zu skandalisieren, das lässt sich schwerlich übersehen.
Warum "Notwendigkeit"? War politische Sprache vorher zu abstrakt und unverständlich?
Nein. Aber die Chance, einen komplizierten Sachverhalt mit vier oder fünf aufeinanderfolgenden Sätzen zu erläutern, war ganz gewiss früher größer. Oder umgekehrt formuliert: Die Hürde, mit einem Hinweis, einer Auskunft oder einer Stellungnahme wahrgenommen zu werden, ist heute grausam hoch geworden. Etwas schlicht Vernünftiges zu sagen ist beinahe eine Garantie dafür, nicht wahrgenommen zu werden.
Was ja dann im Gegenzug bedeuten würde: Das Unvernünftige gewinnt in der öffentlichen Debatte jetzt tendenziell die Oberhand?
Jedenfalls ist die Versuchung offenkundig übermächtig geworden, sich durch Zuspitzungen und Übertreibungen die Aufmerksamkeit zu erkaufen, die es für differenzierte Stellungnahmen in der Regel nicht mehr gibt. Das ist übrigens einer der Gründe dafür, dass sich manche Politikerkollegen, mich eingeschlossen, Einladungen in Talkshows verweigern. Die Chance ist einfach zu gering, in einem solchen Format eine Argumentation zu Ende zu bringen, ohne von Gesprächspartnern oder einem vorbereiteten Einspielfilm unterbrochen zu werden.
Das Schlagwort regiert die Debatte? Man konnte ja zum Beispiel beim jüngsten Flüchtlingsstreit in der Union streckenweise den Eindruck haben, es gehe da eigentlich nur noch um eine Schlacht um Reizworte und Begriffe.
Da bin ich mir nicht so sicher, ob man das in der Öffentlichkeit als Begriffsstreit oder nicht doch als Richtungsstreit wahrgenommen hat. Wahrscheinlich gibt es für beide Wahrnehmungen jeweils eine Teilkundschaft.
Ich vermute, er hat nicht das Copyright dafür gehabt, aber Heiner Geißler hat sinngemäß immer gesagt, wer die politische und gesellschaftliche Vorherrschaft gewinnen wolle, müsse die Begriffe besetzen...
Der Urheber dieser Einsicht war Aristoteles. Der war nie Generalsekretär der CDU, gehörte aber offensichtlich zu den Autoritäten, auf die sich Heiner Geißler gerne bezog. Aber es ist natürlich wahr, wer prägnant formulieren konnte, hatte immer schon einen enormen Wettbewerbsvorteil. Und dieser Vorteil ist unter den Bedingungen einer von digitalen Medien gesteuerten Öffentlichkeit noch einmal deutlich größer geworden.
Hat denn unter diesen Bedingungen die klassische Sprachkritik überhaupt noch ihre Berechtigung? Ich nehme ein aktuelles Beispiel: Niemand wusste bis vor Kurzem, was "sekundäre Migration" sein soll. Aber "Asyltourismus" verstanden alle. Nun kann man die Verbindung mit "Tourismus" unangemessen finden. Aber ist es nicht für Politik grundsätzlich notwendig, sich allgemeinverständlich auszudrücken?
Vielleicht ist der Begriff sogar ein doppelt gutes Beispiel, um das Dilemma zu verdeutlichen. Mit dem Begriff "Sekundärmigration" gelangt man sicher nicht über die vorhin geschilderte Aufmerksamkeitshürde. Also sucht man nach etwas Prägnanterem. Dann findet man etwas, was in der Nähe des gemeinten Problems liegt. Und mit oder ohne polemische Absichten verwendet man dann diesen neuen Begriff, der sich aber auf den zweiten Blick als einer erweist, der nicht nur das Problem gar nicht zutreffend beschreibt, sondern es sogar in einer unzulässigen Weise verzerrt. Darauf aufmerksam gemacht, sehen einige Beteiligte immerhin ein, dass man auf das Wort doch besser verzichtet, weil die mit dem Begriff verbundenen Nebenwirkungen den erhofften Vorzug zunichte machen.
Die unmittelbare Reaktion der Wortschöpfer lautete allerdings: Jetzt kommt wieder die Sprachpolizei, die uns vorschreiben will, wie wir reden dürfen und wie nicht!
Den Einwand würde ich nicht gelten lassen. Zunächst darf mal jeder so reden, wie ihm das Maul gewachsen ist. Aber er darf damit nicht gleichzeitig den Anspruch verbinden, niemand dürfe kritisieren, was er in welcher Form sage. Der Anspruch, so reden zu dürfen wie man glaubt reden zu sollen, wird ja nur plausibel und auch im Sinne unserer Verfassung legitim, wenn er mit der Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung verbunden ist. Die gleichzeitige Erwartung, dass man sagen kann was man will, aber von Kritik nicht behelligt werden darf – diese Erwartung ist grotesk. Im Übrigen macht es einen Unterschied, ob jemand am Stammtisch, auf der Baustelle oder im Freundeskreis in dieser oder jener Weise über ein Thema redet oder ob Leute mit öffentlichen Ämtern sich auf genau die gleiche Weise äußern. Das muss jedem Inhaber eines öffentlichen Amtes bewusst sein.
Für seine Sprache trägt jeder Politiker die Verantwortung und damit auch für die Folgen seiner Worte?
So ist es.
Das heißt, um ein weiteres Beispiel zu greifen: "Wirtschaftsflüchtling" und "Elendsflüchtling" sind zwei Worte für den gleichen Vorgang, aber es ist ein Unterschied, welches von beiden ich verwende?
Na gut, da sind wir jetzt schon wieder in der Nähe der subjektiven Wahrnehmung von Sprachbildern. Ich persönlich würde in diesem konkreten Fall keine polemische Differenz erkennen. Beide Begriffe machen darauf aufmerksam, dass der Grund für Migration nicht Verfolgung ist, sondern eine zumindest so empfundene miserable wirtschaftliche Lage.
Beide Begriffe bleiben mithin in einem zulässigen Rahmen?
Für mich schon. Ich bin aber ohnehin sehr vorsichtig damit, von unzulässigen Begriffen zu reden. Da wären wir dann tatsächlich bei einer virtuellen Sprachbehörde, die ich mir ungern vorstellen möchte. Aber wenn ich aus grundsätzlichen und praktischen Gründen eine solche Zulässigkeitsbegrenzung nicht akzeptiere, dann muss ich umgekehrt akzeptieren, dass das, was wer auch immer sagt, von wem auch immer kritisiert werden darf. Und wenn das Eine öffentlich geschieht, muss die Reaktion auch öffentlich erfolgen.
Auf die verbreitete Kritik an "politischer Korrektheit" bezogen hieße das: Diese Kritik ist an sich berechtigt, aber nur, wenn sie nicht als Vorwand dazu dient, sich selbst der Debatte zu entziehen?
Genau.
Andererseits gibt es ja Formulierungen, von denen zumindest die meisten Menschen sagen würden: Das geht zu weit. Wo wäre für Sie eine Grenze in der Begriffswahl überschritten?
Ich wüsste nicht, wie ich die abstrakt ziehen sollte. Sie wissen ja vielleicht, dass ich in 15 Jahren Mitgliedschaft im Präsidium des Deutschen Bundestages zwar immer wieder interveniert, aber nicht einen einzigen Ordnungsruf erteilt habe. Es gibt in parlamentarischen Debatten keinen Katalog zulässiger und unzulässiger Worte, und ich würde den auch für weder praktikabel noch hilfreich halten. Die Frage, ob irgendwo eine Grenze überschritten ist, hängt so sehr von der Situation ab, der Art und Weise, in der eine konkrete Person gegenüber anderen Personen in einer bestimmten Weise auftritt, dass sich das nicht kanonisieren lässt. Ich kann mir leicht Situationen vorstellen, in denen ich eine Formulierung beanstanden würde, die ich in einer anderen Situation laufen lassen würde, weil schon die Tonlage einen erheblichen Unterschied in der Wirkung auf die Beteiligten wie auf die Unbeteiligten haben kann.
Sie sind nach der letzten Wahlperiode freiwillig aus der aktiven Politik ausgeschieden – eine richtige Entscheidung, oder gibt es da nach so langer Zeit nicht doch gelegentlich ein kleines Bedauern?
Die Entscheidung war gründlich durchdacht, deshalb habe ich sie noch zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt oder gar bereut. Und dass ich die aktuellen Streitfälle im Hinblick auf parlamentarische Debatten nicht mehr zu entscheiden habe, das bedauere ich auch nicht.
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