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Sigmar Gabriel war Vorsitzender der SPD und mehrfach Bundesminister. Er ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke.
© picture alliance / Michael Kappe

Debatte um Schutzzone in Syrien: „Wir sind jetzt die Polizisten“

Annegret Kramp-Karrenbauer hat Recht: Europa muss in Syrien handeln, schreibt unser Autor.

Sigmar Gabriel war Vorsitzender der SPD und mehrfach Bundesminister. Er ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke.

Was wir derzeit erleben, ist eine "Welt der Unordnung". Sie hat die zwar auch nicht immer verlässliche aber uns doch sehr vertraute Nachkriegsordnung des Zweiten Weltkrieges abgelöst. Diese war geprägt von der liberalen Idee, dass Regeln, Verabredungen und internationale Institutionen die Grundlagen für das Zusammenleben der Völker schaffen.

Anführer der bisherigen liberalen Weltordnung waren in den letzten 70 Jahren die USA, die aber – beginnend unter ihrem Präsidenten Obama und dann sehr rasch unter seinem Nachfolger Donald Trump – die internationale Führung abzutreten bereit sind. Die internationale Ordnung ist nur noch dort für die Vereinigten Staaten relevant, wo ihre nationalen Interessen betroffen sind. Das zeigt sich im Nahen und Mittleren Osten. Nachdem die USA selbst zu einem der weltweit größten Energieexporteure geworden und nicht mehr auf die Lieferungen aus dieser Region angewiesen sind, schwindet ihr strategisches Interesse rapide. „Was geht uns dieser Konflikt an, der 7000 Kilometer entfernt stattfindet“, kommentierte Donald Trump seine Entscheidung, in Nordsyrien das amerikanische Militär Hals über kopf abzuziehen. Er ermöglichte damit den Einmarsch der Türkei ließ Russland zur neuen Ordnungsmacht werden.

In Syrien übernehmen Russland und der Schlächter Assad die Macht. Die Weltpolitik kennt kein Vakuum

Denn in der internationalen Politik gibt es kein Vakuum: Wo jemand den Raum verlässt, betritt ihn jemand anderes, in diesem Fall Russland und das Regime des Menschenschlächters Baschar al Assad. Russland sorgt dafür, dass der Krieg der Türkei gegen die Kurden im Norden Syriens gestoppt wird und verschafft dem syrischen Diktator wieder die Kontrolle über diese Gebiete. Die Kurden sind gezwungen, das als „kleineres Übel“ akzeptieren und treffen mit Damaskus Vereinbarungen, die in Moskau entworfen wurden.

Gewinner des Rückzugs der USA sind auch die Terroristen des sogenannten Islamischen Staates, weil die kurdischen Verbände die Hafteinrichtungen für tausende dieser Terrorkämpfer nicht mehr kontrollieren können. Tausende Terroristen machen sich auf den Weg zu gleich gesinnten, die sich noch immer im Irak versteckt halten - oder auf den Weg nach Europa. Die Entscheidung des US Präsidenten, sein Militär aus Nordsyrien zurückzuziehen, macht den Weg frei für den Terror.

Ganz nebenbei verliert in dem Maße, in dem das syrische Regime wieder an Kraft und Einfluss gewinnt, auch der Iran - was durchaus im Interesse Russlands und auch Israels sein dürfte. Vor nichts hatte Israel soviel Sorge wie vor einem zweiten Libanon in Syrien, mit schiitischen Milizen wie der Hisbollah, die Raketenstellungen an der Grenze zu Israel zu errichten versuchen. Unter Assad und seinem Vater war Syrien für Israel relativ berechenbar. Ein syrisches Regime, das wieder größere Teile des eigenen Staatsgebietes kontrolliert und damit auch die iranischen Milizen zurückdrängt, ist ganz im Interesse Israels - wie Russlands.

Der Westen verliert den Nahen und Mittleren Osten. Und Europa ist der größte Verlierer, weil es der nächste Nachbar ist und alles, was dort geschieht, direkte Auswirkungen auf unsere Sicherheit haben wird. Und sei es durch immer wieder neu entstehende Flüchtlingsbewegungen.

Syrien zeigt: Die Welt ist ein Dschungel geworden

Die Welt der Unordnung spiegelt sich unter anderem in der Irrelevanz des UN-Sicherheitsrates wider, in dem sich seine Mitglieder - allen voran die USA und Russland - zu keinem Thema einigen können. "The jungle grows back", schrieb der konservative amerikanische Publizist Robert Kagan 2018. Niemand sorgt mehr für das Zurückschneiden des Dschungels. Alle können im Dickicht versuchen, ihre eigenen Interessen notfalls rücksichtslos auf dem Rücker anderer durchzusetzen. Die internationalen Normen zu ignorieren, kostet praktisch nichts mehr. Was wir in Syrien sehen können, ist der Dschungel.

Es besteht kein Zweifel, dass die Europäische Union in diesen Konflikten vollständig irrelevant und gelähmt ist. Theodor Roosevelt hat einmal gesagt: "Speak softly and carry a big stick." Bei Europa verhält es sich umgekehrt. Und mit Blick auf die Türkei ist Europa sogar erpressbar. Wir erinnern uns gut, was in Mitgliedsstaaten wie Deutschland los war, als 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge unseren Kontinent erreichten. In der Türkei befinden sich weitere vier Millionen. Daran, Sanktionen gegen die Türkei zu erlassen und damit die wirtschaftliche Situation in dem Land zu verschlechtern, hat Europa kein Interesse. Präsident Erdogan bräuchte dann ein Ventil für innergesellschaftliche Konflikte zwischen der türkischen Bevölkerung und den Flüchtlingen. Und dieses Ventil wäre Europa. Schon jetzt sind die Spannungen zwischen Türken und Flüchtlingen innerhalb der Türkei mindestens so groß wie in Deutschland.

AKK liegt in der Sache richtig: Europa muss in Syrien Verantwortung übernehmen

Was ist zu tun? Die Europäische Union könnte die Initiative ergreifen und versuchen, die USA und Russland an einen Tisch bringen. Das wird aber nur gelingen, wenn die EU nicht nur "carrots", sondern auch "sticks" dabei hat. Dazu zählt durchaus auch die Bereitschaft, die Verantwortung für eine Sicherheitszone in Nordsyrien zu übernehmen, wie es die CDU-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen hat. Nicht Deutschland allein, aber als EU-Mission. Da liegt der eigentliche Fehler im Vorgehen Kramp-Karrenbauers: Wenn sie das Vorhaben ernsthaft verfolgen will, dann muss sie vorher in Europa Bündnispartner suchen. Wie "Zieten aus dem Busch" zu kommen, verringert die Chance, dass ihre Vorschläge Realität werden - zumal nicht nur die SPD in einer Art Pawlowschem Reflex in Abwehrstellung geht, sondern auch die Kanzlerin erstmal abwartet, wie die Diskussion läuft, statt sich hinter ihre Verteidigungsministerin zu stellen. Das alles darf aber nicht darüber hinweg täuschen, was die Substanz des Vorschlags von Annegret Kramp-Karrenbauer ist. Dass aber die EU nicht weiter auf der Zuschauertribüne Syriens sitzen darf, sondern vielleicht sogar unter Aufteilung der Grenzregionen mit Russland zusammen einen Waffenstillstand absichern könnte, ist die Diskussion wert. Spannend wäre auch, was Russland einem solchen Friedensvorschlag eigentlich entgegenzusetzen hätte.

Die Kritik am Vorgehen von Annegret Kramp-Karrenbauer dient nur dazu, sich um die eigentliche Frage herumzudrücken

In jedem Fall müssen solche Vorschläge in ihrer Substanz in Deutschland diskutiert werden. Die Kritik an Frau Kramp-Karrenbauer, sie habe die "üblichen Verfahren" nicht eingehalten, ist der typische Versuch, sich vor der eigentlichen Auseinandersetzung zu drücken. Angesichts der dramatischen Lage ist das eine infantile Reaktion. Wenn all unsere öffentliche Kritik an der Türkei und Russland nicht mehr sein soll als pflichtgemäßes Jammern und Wehklagen, dann muss Europa selbst ins Risiko gehen, statt es nur den Kurden zu überlassen. Einfach wird das nicht. Ob wir schon die richtigen Antworten haben, ist auch ungewiss, denn Militär allein wird nichts bringen. Aber vor der Debatte dürfen wir uns nicht weiter drücken. Die Zeiten werden unbequemer für uns. Nur eines ist sicher: Raushalten werden wir uns nicht können.

Um das Recht durchzusetzen, braucht es Polizisten. Das gilt nicht nur zu Hause, sondern auch in der Welt.

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