Sahra Wagenknecht: Eine linke Gerade
Obwohl sie zierlich ist, sieht es oft aus, als throne sie. Viele Menschen finden sie kalt und zu streng. Dennoch wurde Sahra Wagenknecht zur Lichtgestalt der Linkspartei. Weil sie die Einzige ist, die für Großes taugt.
Wenn Parteien sich Programme geben, geht es um Worte, Formulierungen, es geht um viel Papier. Das ist mühsam. Die Linke hat es in den vergangenen eineinhalb Jahren zu spüren bekommen. Um die 40 Seiten halbwegs beschlussfähig zu kriegen, die einmal definieren sollen, was links ist, wurde an jedem Wort gefeilt. 1400 Änderungsanträge noch, dann ist das Grundsatzprogramm fertig. In Erfurt soll es am Wochenende verabschiedet werden. Aber dann muss es noch etwas anderes geben. Eine Person, die es verkörpert, die mehr daraus macht als ein Programm. Vielleicht ist es ein Glück der Linken, dass es sie schon gibt – Sahra Wagenknecht.
Leider ist die gerade jetzt nicht da, wo sie sein sollte. Angekündigt ist ihr Auftritt im Stuttgarter Gewerkschaftshaus. Der Große Saal ist gut gefüllt. Die örtlichen Parteigenossen sind froh, dass man doch Stuhlreihen aufgestellt hat und nicht lange Biertische, wie ursprünglich geplant. Nun passen rund 400 Menschen hinein. Und die warten gespannt. Doch Sahra Wagenknecht steckt in einem Tunnel fest.
Deshalb muss jetzt erst mal Michael Schlecht ans Pult. Er ist Vorredner des Stargastes und eine Art Volkswirt der Partei. Und er muss ein wenig länger reden als geplant. In kürzester Zeit ist er auf Betriebstemperatur, spricht über Casinokapitalismus, wo Zocker und Gauner außer Börse nichts im Kopf hätten, über die ungleiche Verteilung zwischen oben und unten. Bei der die Reichen und Superreichen das ganze Geld bekämen und es ins Casino brächten. „Etwas Sinnvolleres fällt ihnen nicht ein. Etwas, das wir mit dem Geld machen würden, wenn wir es hätten.“
Sahra Wagenknecht ist noch immer nicht da. Also redet Schlecht weiter, er ist jetzt so weit: „Hartz IV muss abgeschafft werden, das ist eine Demütigung.“ Ein Mann verlässt den Raum, kehrt mit einer Bockwurst zurück. Eine sehr dicke Frau steht auf und fragt unvermittelt, was denn eigentlich sei, wenn Hartz IV abgeschafft würde. Ob es dann gar nichts mehr gäbe stattdessen. Schlecht schaut sie an: „Hmm, das klären wir später in der Kellerschenke.“
Die Kellerschenke haben sich die Damen und Herren Linken in Stuttgart als informellen Abschluss ausgeguckt. Da werde man hernach gemeinsam hingehen und auf alle Fragen ausführliche Antworten finden, sagt Schenk.
Um ausführliche Antworten ging es im Frühjahr 2010 auch Oskar Lafontaine und Lothar Bisky mit ihrem ersten Entwurf des Grundsatzprogramms. Beide sind heute im Abseits. Bisky, der Europaabgeordnete, wird nicht einmal nach Erfurt reisen. Dort müsste er womöglich erleben, wie ausgerechnet Sahra Wagenknecht, die einstige Wortführerin der Kommunistischen Plattform, eines Sektiererzirkels der alten PDS, ausgerechnet eine Radikale also, die er wegen ihrer kalten Augen mal als „Njet-Maschine“ bezeichnet hatte, triumphiert.
Auf der nächsten Seite: "Mit Ost, Ost, Ost ist nichts mehr zu machen"
Vor Jahren hat Bisky auch gesagt, sie müsse nur noch anfangen, leicht zu hinken, um das Bild perfekt zu machen und zur wiederauferstandenen Rosa Luxemburg zu werden. Sahra Wagenknecht, heute 42 Jahre, behauptet: „Meine Frisur hatte ich auch schon, als ich Rosa Luxemburgs Texte noch gar nicht kannte. In diesem Bereich leiste ich es mir, stockkonservativ zu sein.“
Dennoch weiß sie wie kaum jemand sonst in der Linken mit ihrem Äußeren umzugehen. Eine Kopf-Büste der Arbeiterführerin Luxemburg steht auf einem Sockel im großen Saal des Karl-Liebknecht-Hauses, der Parteizentrale in Berlin. Am Dienstag, kurz bevor sie nach Stuttgart aufbricht, nimmt sie ein paar Meter neben der Büste Platz. Sie will von der Programmdiskussion in der Linken berichten, trägt ein rotes Strickkleid mit Schalkragen, die schwarzen Haare wie immer hochgesteckt. Mit ihrer Rosa-Luxemburg-Nummer war Wagenknecht in der PDS viele Jahre lang nur das Maskottchen, eine Linksaußen-Randfigur.
Und jetzt? Obwohl sie zierlich ist, sieht es bei Fernsehauftritten oft aus, als throne sie. So gut es geht, hält sie sich aus den innerparteilichen Scharmützeln heraus, PDS buchstabiert sie inzwischen als „Partei Der Stöckchenspringer“. Und mit „Ost, Ost, Ost“ sei ohnehin nichts mehr zu wollen – es geht um Arm und Reich, die Zocker, Finanzhaie, um inhaltliche Glaubwürdigkeit. Deshalb streitet Wagenknecht für die „Grundlinien“ des Parteikatechismus und erläutert, es sei nicht sinnvoll, an den Fixpunkten „irgendwas wieder aufzuschnüren“.
Eine Viertelstunde spricht Wagenknecht an diesem Vormittag. Als ihr Gegenpart soll der Landesvorsitzende aus Sachsen-Anhalt, Matthias Höhn, fungieren. Er beginnt seine Ausführungen mit dem Satz: „Ich könnte es schnell machen und sagen, ich stimme Sahra Wagenknecht vollständig zu.“
Inhaltlich lassen sich gegen Wagenknecht in zentralen Fragen wie der Wirtschafts- und Außenpolitik keine Mehrheiten in der Linkspartei mehr organisieren. Sie scheint die Einzige in der Partei zu sein, die für den großen Rahmen steht.
Beifall brandet auf, als sie in Stuttgart den Saal betritt. Die Journalisten erwachen aus ihrem Dämmerschlaf. Es ist der letzte öffentliche Auftritt der Hoffnungsträgerin vor dem Parteitag, der vor allem ihr Parteitag werden könnte. Sie bedankt sich kurz mit dunklem, weichem Timbre: „Ich freue mich sehr, dass ihr so geduldig gewartet habt auf mich!“ Die Hände rechts und links auf das Pult gestützt, ruft sie kurz darauf in den Saal: „Leiharbeit ist moderne Sklaverei!“ Und selbstverständlich sei es möglich, Leiharbeit wieder zu verbieten. Sie dreht ihre Handflächen nach oben. Und ein Mindestlohn von zehn Euro, „bitte, das ist doch verdammt noch mal nur recht und billig.“
Es ist eine Rede, die sie kaum verändert, überall hält, wo sie auftritt, in Talkshows, im Bundestag, oder eben auf Veranstaltungen wie diesen, wo sie direkt auf ihre Wählerschaft trifft. Zum Beispiel mit dem Satz: „Aber über ihre Belange redet niemand in der Regierung.“ Sie meint die Belange der kleinen Leute. Wieder brandet Applaus auf, „genau“, schallt es. Aber dass sich der Wind im Heißluftfön der Finanzkrise in Richtung Linke dreht, weiß sie mit Ausführungen zur Rolle der Banken, zur Zockerei an den Börsen energisch zu unterstreichen. Zum Schluss ruft sie: „Ihr müsst die Mächtigen unter Druck setzen, die Regierungen, die Banken, die Reichen.“ Aber schnell müsse es passieren. „Denn so darf es nicht weitergehen. Ich danke Ihnen.“
Lesen Sie auf der nächsten Seite: Erst Ulbricht, dann Napoleon, Marx und Hegel
Es lassen sich in Sahra Wagenknechts Vergangenheit viele Zitate finden, die gegen sie sprechen. Sie lobte die Errungenschaften der DDR, sprach Erich Honecker „bleibenden Dank“ aus. Selbst die Stalin- Ära fand sie 1992 gut. Deren Resultat seien „jedenfalls nicht Niedergang und Verwesung“ gewesen. „Jede Menge Trotz“ sei da im Spiel gewesen, rechtfertigte sie sich später. Noch zu DDR-Zeiten hing ein Bild von Ulbricht in ihrer Wohnung. Als Philosophie- und Literatur-Studentin tauschte sie die Porträts – es kamen Napoleon, Marx und Hegel. Erst mit 20 war Wagenknecht im Frühjahr 1989 in die SED eingetreten, ein Jahr zuvor nach dem Abitur hatte sie mit der Begründung, nicht aufgeschlossen genug zu sein fürs Kollektiv, keinen Studienplatz bekommen. Als Einzelkind war sie aufgewachsen bei ihrer Mutter in Ost-Berlin, den iranischen Vater hat sie nie kennengelernt.
Heute hängt der von ihr hoch verehrte Johann Wolfgang von Goethe daheim an ihrer Wand. Man sagt, sie könne „Faust“ auswendig vortragen. Lesen, sagt sie, „entspannt unglaublich“. Zuletzt hatte sie Zeit für Steinbecks „Früchte des Zorns“ und „Stadt der Engel“ von Christa Wolf. Im Gespräch mit Günter Gaus erzählte sie 2004, wie toll es sei, nach „irgendwelchen Intrigen und irgendwelchen politischen Kämpfen“ ein Drama von Shakespeare zu lesen, „dann geht man mit all dem gelassener um“.
Nun steht sie selbst im Zentrum komplizierter Ränkespiele. Vor Jahren haben Bisky und Gysi den Aufstieg Wagenknechts wiederholt verhindert. In der PDS wiesen sie ihr und ihren wenigen Verbündeten eine Fremdkörperrolle zu. Noch 2008 verhinderten beide ihre Wahl zur Vizevorsitzenden der Linken. „Das Signal wäre falsch“, sagte Gysi. Inzwischen spricht nicht nur der Fraktionsvorsitzende davon, dass Wagenknecht dazugelernt habe. Und Parteivize ist sie auch. Sie selbst warnt ihre Genossen davor, „uralte Konflikte“ wieder aufleben zu lassen. „Ich habe mich entwickelt, die Partei hat sich auch entwickelt.“ Sie lobt Gysi mit den Worten, er sei „zentral für die Partei“. Wo die Linke ohne ihn stünde, will sie sich nicht ausmalen. Umgekehrt erkennen im Reformerlager fast alle an, dass Wagenknecht „sehr wichtig“ geworden sei, „für das innere Gefüge und die Außenwirkung“.
Wagenknecht sagt denn auch, dass sie sich durchaus zutraue, die Fraktion „nach innen und nach außen zu vertreten“. Schon im November könnte Wagenknecht aufrücken zur Chefin neben Gysi, auch wenn der, um den Zusammenhalt der Fraktion fürchtend, noch nicht alle Abgeordneten überzeugt hat. Verzichtet sie auf diese schnelle Karriere, hat sie beste Chancen, beim Parteitag im Juni 2012 zur Vorsitzenden der Partei gewählt zu werden.
Längst hat die gebürtige Jenaerin es vermocht, das Image der Ost-Politikerin abzustreifen und trotzdem für eine radikale Option zu stehen. 1995 hatte sie ihren aus dem Westen stammenden Mann kennengelernt, und, wie sie sagt, aufgehört, „die Realität durch die Brille der Vergangenheit anzugucken“. Sie pendelt zwischen ihren Wohnungen in Düsseldorf-Oberbilk, einem gemischten Viertel, in dem auch viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten leben, und Karlshorst im Berliner Osten. Bei der Wahl 2009 kandidierte sie in Nordrhein-Westfalen. Noch bevor sie nach fünf Jahren im Europaparlament erstmals in den Bundestag gewählt wurde, jubilierte sie: „Ich bin keine einsame Stimme mehr.“
Das Treffen in der Kellerschenke in Stuttgart dauert nur 20 Minuten. Die drei Vertreter der Stuttgarter Linken und ihr Ehrengast treten in einen lauen Abend hinaus. Spazieren auf der Börsenstraße entlang zu einem nahen Italiener, den auch die bessere Stuttgarter Gesellschaft gerne besucht. Man bestellt Wein und trinkt auf einen gelungenen Abend. So viele Besucher. Am Nachbartisch sitzen drei Damen, bürgerlich, wohlhabend, sie zeigen es mit ihrem Schmuck. Als sie Wagenknecht erkennen, sehen sie hinüber, als ob ihr Essen vergiftet wäre.