zum Hauptinhalt

Mindestlohn: Rufe nach Lohnuntergrenzen auch in der Koalition

Nicht nur Friseurinnen, auch andere Berufsgruppen werden zum Teil sehr schlecht bezahlt. Nun wird selbst in der Koalition die Forderung nach einem Mindestlohn stärker.

Klaus Ernst ist sich ganz sicher. „Eher“, so verkündet der Chef der Linkspartei, „geht das berühmte Kamel durch das Nadelöhr, als dass die schwarz-gelbe Koalition einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einführt.“ Tatsächlich hatte die Forderung nach einer festen Lohnuntergrenze in der Union und erst recht in der FDP bislang nie eine Chance – sie war verpönt, weil ein allgemeinverbindlicher Mindestlohn als Eingriff ins Spiel der freien Kräfte auf dem Arbeitsmarkt galt. Doch der Wind scheint sich zu drehen. Zunehmend setzt sich auch in Koalitionskreisen die Überzeugung durch, dass nur mit einem solchen Mittel existenzbedrohende Niedrigstlöhne verhindert werden können. Und in der Union halten es manche nicht für ausgeschlossen, dass die bisherige Mindestlohngegnerin Angela Merkel ihren Kurs ändern und der SPD so noch eines ihrer wichtigsten Kampagnen-Themen entreißen könnte.

Wer setzt in Union und FDP auf Mindestlöhne – und mit welcher Begründung?

Am Wochenende gesellte sich Arbeitsministerin Ursula von der Leyen zu den Sympathisanten – auch wenn sie ihre offenkundige Neigung lieber noch hinter einer Prognose versteckt. „Ich bin überzeugt“, sagte die CDU-Politikerin dem „Spiegel“, „dass wir über kurz oder lang einen Mindestlohn in allen Branchen haben werden.“ Ohne gesetzliche Lohnuntergrenzen, das weiß die Ministerin genau, bleiben ihre aktuellen Bemühungen gegen Altersarmut ein vergebliches und leicht zu kritisierendes Stückwerk.

Die eigentlichen Vorkämpfer für Mindestlöhne freilich sitzen im Sozialflügel der Union – und machen seit Wochen Druck. Mitte November wollen sie das Thema auf dem Bundesparteitag diskutiert haben, den Antrag auf eine „tariforientierte Lohnuntergrenze“ hat die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA) bereits formuliert. Dahinter stehen auch komplette CDU-Landesverbände, etwa in Hamburg oder dem Saarland.

Die CDU sei die Partei der Familie, sagt der CDA-Bundesvorsitzende Karl-Josef Laumann zur Begründung. Der Volkspartei CDU dürfe es „nicht egal sein, dass eine Million Menschen in diesem Land weniger als fünf Euro pro Stunde verdienen“. Damit könne man weder eine Familie ernähren noch ausreichende Rentenansprüche erwerben. Man habe zwar schon viele Arbeitnehmer über Branchen-Mindestlöhne vor Lohndumping geschützt. Probleme gebe es aber dort, wo die Lohnfindung über Tarifpartner nicht funktioniere. Und das sei inzwischen „in vielen Regionen und Branchen“ so, es gebe „immer mehr tarifvertragsfreie Zonen“.

Acht Stunden am Tag für Löhne, von denen man nicht leben kann. Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Gegner des Mindestlohns argumentieren.

Nach Expertenangaben nähert sich die Zahl der Beschäftigten in nichttarifgebundenen Betrieben zunehmend der 50-Prozent-Marke, im Osten liegt sie längst darüber. Selbst in der FDP sehen manche darin ein Problem. Er wolle die Tarifautonomie stärken, sagt Schleswig-Holsteins Sozialminister Heiner Garg. Wo es sie allerdings nicht mehr gebe, müsse ein anderer Mechanismus greifen. „Wir würden damit auch der eigenen Partei helfen, weil wir uns wieder mit der Realität der Menschen befassen würden.“ Es sei „nicht marktwirtschaftlich, wenn Menschen acht Stunden am Tag für Löhne arbeiten, von denen sie nicht leben können“.

Konsens unter den Befürwortern ist freilich, dass ein Mindestlohn nicht politisch verfügt werden darf, sondern sich an einem Tarifabschluss orientieren muss. Laumann schlägt dafür die Zeitarbeiter-Branche vor. Dort liegt das Grundsalär bei 7,79 Euro im Westen und 6,89 Euro im Osten.

Mit welchen Argumenten ziehen die Gegner des Mindestlohns ins Feld?

Das Hauptargument, vorgetragen von Arbeitgebern, Liberalen und Wirtschaftspolitikern der Union, ist immer dasselbe: die Gefährdung von Arbeitsplätzen. Bis zu 1,7 Millionen Niedriglohn-Jobs stünden womöglich auf dem Spiel, warnt die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA). Sie will nicht berücksichtigen, dass höhere Einkommen der Binnenwirtschaft auch Impulse geben könnten. So haben die Gewerkschaften Verdi und Nahrung, Genuss, Gaststätten hochgerechnet, dass ein Mindestlohn, der allmählich von 7,50 Euro auf neun Euro steigen würde, mindestens 200 000, langfristig vielleicht sogar 600 000 zusätzliche Arbeitsplätze ermöglichen könnte.

Die Produktivität der Köchin, des Wachmanns oder der Pflegerin lasse schlicht keine höheren Entgelte zu, argumentiert der BDA. Wenn denen das nicht zum Leben reiche, müsse eben die Gemeinschaft der Steuerzahler einspringen und den Lohn aufstocken. Der Wirtschaftsflügel der Union sieht das genauso. „In dieser Koalition wird es keinen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn geben“, beharrt Fraktionsvize Michael Fuchs (CDU). Ähnlich Hessens Regierungschef Volker Bouffier (CDU): „Die Verordnung eines flächendeckenden Mindestlohns ohne Rücksicht auf Branchen und unterschiedliche regionale Bedingungen ist mit mir nicht zu machen“, stellte er im „Spiegel“ klar.

Andere Länder haben den Mindestlohn längst eingeführt. Weiter auf der letzten Seite.

In vielen EU-Staaten gibt es längst einen Mindestlohn. Warum tut sich ausgerechnet Deutschland so schwer damit?

Der Mindestlohn hat eine lange Geschichte. Zum Beispiel in Frankreich. Dort gibt es den gesetzlichen Mindestlohn seit 1950. Die Bundesrepublik ist einen anderen Weg gegangen. Auf Basis der grundgesetzlich gesicherten Tarifautonomie sind hierzulande allein die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften für die Löhne und Gehälter zuständig. Und auch für die Lohnuntergrenzen. Weil das so ist, waren die Industriegewerkschaften (IG Metall und IG BCE) lange gegen einen gesetzlichen Mindestlohn. Der Staat sollte sich aus ihrem Geschäft heraushalten und nur in einzelnen Branchen die dort geltenden Mindeststandards als allgemeinverbindlich erklären. Wenn sich zum Beispiel Gewerkschaften und Arbeitgeber im Wachschutzgewerbe auf einen Mindestlohn verständigen und die Regierung diesen dann für allgemeinverbindlich erklärt, dann müssen alle Wachschutzfirmen diesen Mindestlohn zahlen.

Inzwischen gibt es in zehn Branchen Mindestlöhne, für gut 2,2 Millionen Arbeitnehmer – darunter diverse Handwerksbereiche, auf dem Bau, bei den Gebäudereinigern und in der Abfallwirtschaft. Doch offenkundig reicht das nicht. Die Industriegewerkschaften haben ihre Meinung inzwischen geändert: Weil die Tarifbindung nachlässt, also immer weniger Betriebe Tarif zahlen, fordern sie nun die Hilfe des Staates. In den Dienstleistungsbranchen etwa sind Tarife eher die Ausnahme.

Der Niedriglohnsektor umfasst inzwischen Millionen Arbeitnehmer. Allein in Berlin gibt es rund 120 000 sogenannter Aufstocker – der Lohn der Arbeit reicht nicht zum Leben, also muss ergänzend Hartz IV gezahlt werden. Das gilt vor allem für Leiharbeitnehmer, Beschäftigte in der Gastronomie und im Verkehrsgewerbe. In Brandenburg ist die Situation ähnlich. Jeder zehnte Arbeitnehmer verdient dort weniger als 700 Euro netto im Monat.

In 20 der insgesamt 27 EU-Länder gibt es bereits einen Mindestlohn. Die Bandbreite geht von 0,71 Euro (Bulgarien) bis 10,16 Euro (Luxemburg). Bei den Franzosen sind es gegenwärtig neun Euro, bei den Holländern 8,74 und bei den Briten knapp sieben Euro. Dass die Mindestlöhne dort Arbeitsplätze gekostet hätten, ist nicht -nachgewiesen.

Alfons Frese, Rainer Woratschka

Zur Startseite