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Türkisches Militär auf dem Weg zur Grenze zu Syrien
© ehmet Ali Dag/ Ihlas News Agency (IHA)/REUTERS

Türkei marschiert in Syrien ein: Eine Katastrophe bahnt sich an – mit Ansage

Erdogan will die Kurden im Norden Syriens entscheidend schwächen. Die Eskalation kennt einen Verlierer, vier Gewinner und einen Brandstifter. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Alle Alarmglocken müssen läuten, wenn der mächtigste Mann der Welt, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Donald Trump, nicht mehr weiß, was er tut. Wenn er keine Ahnung hat, welch dramatischen Folgen seine erratischen Entscheidungen haben. Wenn er nach einem Telefonat mit dem türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, das langjährige Bündnis Amerikas mit den Kurden aufkündigt.

Wenn er Erdogan grünes Licht gibt für einen Einmarsch der Türkei in den Norden Syriens. Wenn er die Voraussetzung dafür, den Abzug der US-Truppen aus dem Grenzgebiet, weder mit dem Verteidigungsministerium noch mit dem Außenministerium, weder mit dem Kongress noch mit den Nato-Verbündeten abspricht.

Wenn er – in seiner „großen und unerreichten Weisheit“ und aufgeschreckt durch die parteiübergreifend entsetzten Reaktionen – einen Tweet absetzt, in dem er der Türkei droht, deren Wirtschaft auszulöschen, falls die Regierung in Ankara gewisse undefinierte Grenzen überschreite.

Eine Katastrophe bahnt sich an, denn Erdogan zeigt sich unbeeindruckt von Trumps impulsivem Zickzackkurs. Er verkündete am Mittnachmittag per Twitter den Beginn der türkischen Offensive in Nordsyrien – und sprach von einer „Operation Friedensquelle“.

So zeigt sich: Je lauter das Wehgeschrei aus Washington klingt, desto trotziger wird Erdogan. Aus seiner Sicht wäre ein Interventionsverzicht einem Wortbruch gleichgekommen. Zweimal schon hatte er einen Einmarsch in Syrien angekündigt – und beide Male in die Tat umgesetzt. Das erste Mal im Sommer 2016 mit der „Operation Euphrat-Schild“, das zweite Mal Anfang 2018 mit der „Operation Olivenzweig“.

Es drohen Massenvertreibungen und „ethnische Säuberungen“

Die verhängnisvolle Entwicklung kennt einen Verlierer, vier Gewinner und einen Brandstifter. Der Hauptverlierer sind die Kurden in der Region. Sie hatten sich auf den Beistand der USA verlassen, nun fühlen sie sich verlassen, sprechen von Verrat und Dolchstoß.

Durch ihre Allianz mit den USA war die Terrororganisation „Islamischer Staat“ besiegt worden. Etwa 11.000 kurdische Kämpfer kamen dabei ums Leben. In der Grenzregion leben rund vier Millionen Menschen. Es drohen Massenvertreibungen, „ethnische Säuberungen“ und eine entscheidende Schwächung der kurdischen Autonomiebestrebungen. Für die Kurden setzt sich eine jahrzehntelange Tragödie fort.

Erdogan ist einer von vier Gewinnern. Er plant, durch seine Offensive einen 480 Kilometer langen und 32 Kilometer breiten „Friedenskorridor“ entlang der syrisch-türkischen Grenze zu errichten. Er soll eine Art Pufferzone zwischen Türken und Kurden sein.

Besiedelt werden soll diese Zone durch bis zu zwei Millionen syrischer Flüchtlinge, die derzeit in der Türkei leben. Sie sind in ihrer Mehrzahl sunnitische Araber. An den Kosten für die Umsiedlung soll sich die EU beteiligen. Durch den „Friedenskorridor“ will Erdogan zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Entlastung in der Flüchtlingskrise plus Zurückdrängung der Kurden.

Der zweite Gewinner ist Assad. Er kann hoffen, durch einen türkischen Einmarsch die Kurden wieder enger an sein Regime anbinden zu können. Bis heute verfolgt Assad das Ziel, wieder das gesamte syrische Staatsgebiet unter Kontrolle zu bringen.

IS-Terroristen könnten ungehindert ausbrechen

Der dritte Gewinner ist der „Islamische Staat“. Die Kurden werden im Falle einer türkischen Invasion kaum noch Kapazitäten haben, die rund 10.000 gefangenen IS-Kämpfer zu bewachen, die in Lagern und Gefängnissen sitzen.

Zwischen Trump und Erdogan war vereinbart worden, dass in diesem Fall die Türkei einspringt und die Kontrolle der IS-Milizen übernimmt. Doch die Türkei hat in der Vergangenheit den IS mehrfach in dessen Kampf gegen das Assad-Regime unterstützt. Zu befürchten ist, dass viele IS-Terroristen einfach ungehindert ausbrechen werden.

Der vierte Gewinner ist Putin. David Ignatius, ein Kolumnist der „Washington Post“ berichtet, dass die türkische Offensive offenbar mit Russland koordiniert wird. Womöglich gibt es einen Deal: Die Russen unterstützen die Türkei bei der Schaffung eines Korridors im Norden Syriens, im Gegenzug zieht Ankara seine Truppen aus der Provinz Idlib zurück, die immer noch von Anti-Assad-Kräften gehalten wird. Das würde dem mit Moskau verbündetem Assad-Regime die Rückeroberung von Idlib ermöglichen.

Bleibt zuletzt der Brandstifter, Donald Trump. Ihm die völkerrechtswidrigen, inhumanen und potenziell verhängnisvollen Verbrechen der Akteure in der Region anzulasten, wäre verkehrt. Sie tragen dafür ihre eigene Verantwortung. Das sollte immer wieder betont werden.

Aber der US-Präsident muss sich seine eigene Unberechenbarkeit ebenso vorwerfen lassen wie sein Unvermögen, die Konsequenzen seiner Entscheidungen berechnen zu können. Er war gewarnt worden und hat alle Warnungen in den Wind geschlagen. Die Saat des Unheils dürfte bald aufgehen.

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