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Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei der Gedenkfeier für die Corona-Opfer
© dpa/AP/Michael Sohn/Pool

Steinmeier zum Gedenken an die Corona-Opfer: „Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird Schaden nehmen“

Bei der Gedenkfeier für die Corona-Toten ruft Frank-Walter Steinmeier zu Anteilnahme und Zusammenhalt auf. Die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut.

Gut ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie hat Deutschland am Sonntag in einer zentralen Veranstaltung der bislang rund 80.000 Verstorbenen gedacht. Bei der Gedenkfeier im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Gesellschaft zur Anteilnahme. Wir dokumentieren hier seine Rede im Wortlaut.

Wem kann ich klagen, Der mit mir fühlt? Wem kann ich sagen, Was in mir wühlt?

Fragen, mit denen der Schriftsteller Erich Mühsam in Stunden von Bitterkeit und Verzweiflung gerungen hat. Fragen, die viele Menschen heute umtreiben.

Vor mehr als einem Jahr ist die Pandemie über uns hereingebrochen. Sie hat tiefe Wunden geschlagen und auf schreckliche Weise Lücken gerissen – in unserem Land, in Europa, auf der ganzen Welt. Und wir wissen: Sie ist noch immer nicht vorbei.

Wir sind ermüdet von der Last der Pandemie, und wundgerieben im Streit um den richtigen Weg. Auch deshalb brauchen wir einen Moment des Innehaltens, einen Moment jenseits der Tagespolitik, einen Moment, der uns gemeinsam einen Blick auf die menschliche Tragödie der Pandemie erlaubt.

Wir wollen und wir müssen der Menschen gedenken, die seit dem Beginn der Pandemie gestorben sind. Wir wollen heute als Gesellschaft derer gedenken, die in dieser dunklen Zeit einen einsamen und oft qualvollen Tod gestorben sind. 80.000 Menschen sind dem Corona-Virus in unserem Land bislang zum Opfer gefallen. Mehr als drei Millionen sind es weltweit. Tag für Tag sterben weitere an den Folgen der Infektion. Auch in dieser Stunde ringen Menschen auf den Intensivstationen mit dem Tod.

Aber nicht nur derjenigen, die an Corona gestorben sind, gedenken wir. Viele andere, ohne mit dem Virus infiziert zu sein, waren unter den Bedingungen der Pandemie allein; sind ohne Beistand und Abschied verstorben.

Seit dem Beginn der Katastrophe blicken wir täglich wie gebannt auf Infektionsraten und Todeszahlen, verfolgen Kurvenläufe, vergleichen und bewerten. Das ist verständlich. Aber mein Eindruck ist, dass wir uns als Gesellschaft nicht oft genug bewusst machen, dass hinter all den Zahlen Schicksale, Menschen stehen. Ihr Leiden und ihr Sterben sind in der Öffentlichkeit oft unsichtbar geblieben. Eine Gesellschaft, die dieses Leid verdrängt, wird als ganze Schaden nehmen.

Heute also schauen wir nicht auf Zahlen und Statistiken, sondern auf die Menschen, die von uns gegangen sind. Frauen und Männer aus allen Regionen unseres Landes. Hochbetagte, Ältere und Jüngere. Wir erinnern an ihre Namen, Gesichter und Geschichten. So unterschiedlich sie waren und gelebt haben: Sie alle fehlen – in ihren Familien und Freundeskreisen, in der Nachbarschaft, im Kreis der Kollegen, in unserer Gesellschaft. Sie alle kommen nicht zurück – aber sie bleiben in unserer Erinnerung. Wir vergessen sie nicht.

Wir gedenken heute auch der Menschen, die seit dem Beginn dieser globalen Katastrophe in Europa und auf der ganzen Welt gestorben sind. Die Trauer verbindet uns über Grenzen hinweg. Und die Erfahrung des geteilten Leids bestärkt uns, auch gemeinsam zu handeln, in Europa und weltweit.

Liebe Landsleute, vergessen wir nicht, unter welchen besonderen Bedingungen Menschen in dieser Zeit bei uns gestorben sind. Sterben in der Pandemie, das war und das ist oft ein Sterben ohne Beistand und Abschied. Manchmal durften selbst Angehörige ihre Nächsten in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Hospizen nicht besuchen. Viele Menschen sind verstorben, ohne dass ihre Verwandten und Freunde sich von ihnen verabschieden konnten.

Wir denken an alle, die im Moment ihres Todes keine vertraute Stimme hören, kein vertrautes Gesicht sehen konnten. Die sterben mussten ohne ein letztes zärtliches Wort, einen letzten liebevollen Blick, einen letzten Händedruck. Das zu wissen, zerreißt uns das Herz. Es macht uns unendlich traurig.

Wir denken heute auch an die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger, die in dieser Zeit Tag und Nacht um jedes Leben kämpfen, oft bis zur völligen Erschöpfung und nicht selten darüber hinaus.

Wir denken an all jene, die in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in der Seelsorge und in Hospizen bis zuletzt für Sterbende da sind, die versucht haben, ihnen trotz allem einen Abschied in Würde zu ermöglichen.

Wir sind dankbar für ihre Fürsorge und ihre Nächstenliebe. Sie alle riskieren ihre Gesundheit, um für andere da zu sein. Nicht wenige haben sich, während sie ihren Beruf ausübten, selbst mit dem Virus angesteckt, einige sind gestorben.

Auch ihnen wollen wir heute Ehre erweisen. Wir verneigen uns mit Respekt vor ihrem selbstlosen Engagement.

Wir gedenken heute der Toten, und wir wenden uns zugleich den Lebenden zu, die um sie trauern. Wir nehmen Anteil am Leid der Hinterbliebenen, die in dieser schwierigen Zeit Halt und Trost suchen, die sich einsam fühlen in ihrer Trauer und oft nicht wissen, wie es weitergehen soll.

Viele von Ihnen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, haben in den vergangenen Monaten um Angehörige gebangt, gezittert und geweint. Manche konnten ihre Nächsten geheilt aus den Kliniken abholen; aber viele haben vor verschlossenen Krankenhaustüren gestanden und gefleht, noch einmal zu ihrer Frau oder ihrem Mann gelassen zu werden, zu ihrer Mutter, ihrem Vater, ihrer Tochter, ihrem Sohn.

Es gibt keine Worte für Ihren Schmerz. Aber wir hören Ihre Klage. Wir verstehen Ihre Bitterkeit.

Viele von Ihnen haben mir geschrieben, mit manchen habe ich sprechen können. Sie haben mir von ihrer Verzweiflung berichtet. Ich weiß, dass einige sich unendlich quälen, weil sie sterbenden Angehörigen auf dem letzten Weg nicht beistehen konnten; dass sie sich sogar vorwerfen, ihre Liebsten im Stich gelassen zu haben.

Für manche wiegt der Verlust doppelt schwer, weil ihnen ein letzter Blick auf den Verstorbenen, eine letzte Berührung verwehrt geblieben ist. Andere belastet es schwer, dass sie ihre Angehörigen nicht so bestatten konnten, wie sie und vor allem der Verstorbene es sich gewünscht hätten.

Viele sind überfordert und verzweifelt, weil sie in der Stunde größter Trauer, wenn noch der Schmerz der Todesnachricht einen lähmt, sie ausgerechnet dann Verwandten, Freunden und Bekannten die Teilnahme an der Trauerfeier versagen müssen.

Rituale des Trauerns geben Halt, spenden Trost und stiften Sinn. In der Zeit der Pandemie konnten diese Rituale oft nicht wie gewohnt oder gar nicht stattfinden. Viele Trauernde haben Bestattungen, die nur im allerkleinsten Kreis stattfinden konnten, als trostlos empfunden. Sie haben die gemeinschaftliche Trauer vermisst, die Verabschiedung am offenen Grab. Sie haben andere Menschen vermisst, jemanden, der sie in den Arm nimmt und mit ihnen weint.

Viele Trauernde treibt die Befürchtung um, dass ohne gemeinsame Erinnerung ihre Toten sang- und klanglos verschwinden, dass sie nicht weiterleben im Gedächtnis der Familien, des Freundeskreises oder der Nachbarschaft. Sie sehnen sich danach, die Verstorbenen mit ihrer ganzen Lebensgeschichte in der Gemeinschaft aufgehoben zu wissen. Möge der heutige Tag allen Trauernden Anlass geben, über den Verlust sprechen zu können.

Einige wenige Hinterbliebene sind heute hier bei uns im Saal. Wir wollen ihre Stimmen hören, stellvertretend für die vielen anderen, die in dieser Zeit um Angehörige trauern.

Auch an vielen anderen Orten unseres Landes gedenken Menschen heute der Verstorbenen und nehmen Anteil am Schicksal der Hinterbliebenen. Sie zünden Kerzen an, legen Blumen nieder, pflanzen Bäume, lassen an Gedenkstellen ein Gedicht oder ein Gebet zurück.

Gerade jetzt, in der Zeit der Pandemie, brauchen wir solche Orte, an denen wir mit kleinen Gesten zeigen können: Wir sind füreinander da, wir sind uns nah, auch wenn wir immer noch Abstand halten müssen.

Heute wollen wir allen Trauernden unser Mitgefühl ausdrücken, überall in unserem Land. Wir wollen ihnen sagen: Ihr seid nicht allein mit eurem Leid, nicht allein in eurer Trauer.

Wenn wir heute einen Moment innehalten, dann wird uns bewusst, dass das Virus unsere Gesellschaft tiefer erschüttert und verwundet hat, als wir uns das im Alltag eingestehen. Uns wird bewusst, wie schwer es uns alle trifft.

Wir alle spüren Sorge und Ungewissheit. Wir alle leiden unter den Beschränkungen, die wir uns auferlegen mussten und weiter auferlegen müssen, um die Pandemie einzudämmen.

Aber wir wissen auch längst: Das Virus gefährdet nicht alle gleich, und die Beschränkungen setzen nicht allen gleich schwer zu. Wir denken heute an diejenigen, die diese Krise besonders hart getroffen hat. An die Menschen, die an den Spätfolgen einer Infektion leiden. An jene, die seelisch krank geworden sind vor Einsamkeit und Enge. An Menschen, die Gewalt erlitten haben.

Wir denken an jene, die in wirtschaftliche Not geraten sind und um ihre Existenz bangen. An die Kinder, die auf Schule und Freunde verzichten müssen. An junge Menschen, die ausgerechnet in ihrem Start ins Leben ausgebremst sind.

Sie alle tragen eine außerordentliche Last.

Ich übersehe nicht: Neben der Trauer gibt es bei manchen auch Verbitterung und Wut.

Viele, die mir geschrieben haben, fragen sich, ob bestimmte Einschränkungen, die beschlossen wurden, um die Pandemie einzudämmen, zu viel Freiheit genommen haben. Sie fragen sich, ob bei dem Versuch, Menschenleben zu retten, die Menschlichkeit manchmal auf der Strecke geblieben ist.

Ich verstehe die Fragen, und ich verstehe die Verbitterung.

Und ja, es stimmt: Wir haben Menschen Einsamkeit zugemutet, um andere vor Krankheit oder Tod zu schützen. Wir haben unser Leben einschränken müssen, um Leben zu retten.

Das ist ein Konflikt, aus dem es keinen widerspruchsfreien Ausweg gibt. Ich weiß, dass Einschränkungen, die in der Ausnahmesituation der Pandemie notwendig sind, unbeabsichtigt auch Leid und Not verursacht haben. Das ist eine bittere Wahrheit.

Aber ich weiß auch: Die Politik musste schwierige, manchmal tragische Entscheidungen treffen, um eine noch größere Katastrophe zu verhindern. Wir alle, auch die Politik, haben lernen müssen, haben Fortschritte gemacht. Und wo es Fehler oder Versäumnisse gab, da müssen und werden wir das aufarbeiten. Aber nicht an diesem Tag. Nicht heute.

Meine Bitte ist heute: Sprechen wir über Schmerz und Leid und Wut. Aber verlieren wir uns nicht in Schuldzuweisungen, im Blick zurück, sondern sammeln wir noch einmal Kraft für den Weg nach vorn, den Weg heraus aus der Pandemie, den wir gehen wollen und gehen werden, wenn wir ihn gemeinsam gehen.

Lassen wir nicht zu, dass die Pandemie, die uns schon als Menschen auf Abstand zwingt, uns auch noch als Gesellschaft auseinandertreibt!

Liebe Landsleute, die Pandemie erinnert uns an etwas, das wir allzu gern verdrängen: dass wir verletzliche und sterbliche Wesen sind. Nicht alles lässt sich planen, berechnen, absichern und beherrschen. Wir haben nicht alles im Griff. Schon gar nicht den Tod.

Auch wenn die Medizin immer mehr Krankheiten heilen, immer mehr Leben retten kann: Wir alle stehen dem Tod letztlich ohnmächtig und ratlos gegenüber, und es fällt uns schwer, das hinzunehmen. Die Pandemie lehrt uns Demut gegenüber dem Unverfügbaren.

Diese Erfahrung mag eine große Enttäuschung sein, eine Kränkung eines sehr auf Selbstoptimierung gerichteten Zeitgeists. Aber ich glaube, dass diese Erfahrung auch heilsam sein kann. Im Angesicht von Krankheit und Tod fragen wir uns, was in unserem Leben wirklich wichtig ist. Und wir erkennen: Was zählt, ist nicht nur die Sorge um das eigene Wohlergehen, sondern auch die Sorge um das Leben und die Gesundheit anderer.

Vom ersten Tag dieser Pandemie an haben wir das miteinander erfahren. Vom ersten Tag an sahen wir, wie viel Gemeinsinn und Mitgefühl in dieser Gesellschaft stecken. In allen Teilen unseres Landes waren Menschen füreinander da – und sind es immer noch. Viele setzen sich in ihrem Beruf und im Ehrenamt, in der Nachbarschaft und in der Familie unermüdlich für jene ein, die die Krise mit voller Wucht getroffen hat.

Diese Mitmenschlichkeit – sie ist ein Lichtblick in dunkler Zeit. Und ich glaube, das ist die existenzielle, die bleibende Erfahrung dieser Pandemie: Wenn es hart auf hart kommt, sind wir auf andere angewiesen – und andere auf uns!

Diese Lehre werden wir mit uns tragen, sie wird uns prägen, jeden und jede. Und ich glaube: Sie kann auch die Gesellschaft prägen, in der wir leben werden; die Zukunft, in die wir aufbrechen. Wir werden von dieser Pandemiezeit gezeichnet sein, aber auch an ihr wachsen. Wir werden die Pandemie hinter uns lassen! Wir werden aufatmen und wieder freier leben!

Auf dem Weg dorthin sind wir. In Rekordzeit haben Wissenschaftler Impfstoffe entwickelt, und Tag für Tag erreichen mehr Menschen durch die Impfung das rettende Ufer. Wir werden uns als Menschen wieder nahe sein, und als Gesellschaft vereint. Dass das möglich ist, dass wir einander verbunden sind, auch mitten in der Pandemie, das spüren wir gerade heute, in dieser Stunde, in der wir gemeinsam innehalten.

Wir sehen die Wunden, die die Pandemie geschlagen hat. Wir gedenken der Verstorbenen. Und wir fühlen mit den Lebenden, die um sie trauern. Bleiben wir beieinander, und geben wir acht aufeinander.

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