Pressestimmen zur Lage der SPD: „Eine ganze Partei hat ihren Rücktritt erklärt“
Der Rückzug von Andrea Nahles stürzt nicht nur die Sozialdemokraten in eine schwere Krise. So kommentieren nationale und internationale Medien den Rücktritt.
Die SPD will an diesem Montag über die Nachfolge von Andrea Nahles im Parteivorsitz beraten. Doch Medien warnen: Das Dilemma der Sozialdemokratie werde mit Andrea Nahles nicht verschwinden. Ihren Rücktritt werten die Kommentatoren auch als Zeichen für ein raueres politisches Klima. „Die Bereitschaft, Leute, die sich mit all ihren Schwächen engagieren und exponieren, sehr schnell politisch hinzurichten, ist stark gestiegen“, schreibt etwas die „Süddeutsche Zeitung“. Die Pressestimmen im Überblick:
„Frankfurter Allgemeine Zeitung“
„Nicht nur Andrea Nahles ist am Wochenende zurückgetreten. Eine ganze Partei hat im Grunde ihren Rücktritt erklärt. Damit kam ins Rutschen, was längst in der Luft lag. Als Nahles - das war vor einem Jahr - den Parteivorsitz übernahm, war klar, dass es auf lange Sicht die letzte Chance war, die den Sozialdemokraten blieb, wieder an ihre Zeit als Volkspartei anzuknüpfen. Sie haben diese Chance vertan, und es spricht nichts dafür, dass es dem Nachfolger besser ergeht. Denn der Parteivorsitzende wurde seit Gerhard Schröder stets zum Sündenbock dafür gemacht, dass die SPD aus dem Tritt geraten, gestrauchelt und schließlich abgestiegen ist in die zweite Liga der deutschen Parteien. Dort wird sie vorläufig bleiben.“
„Süddeutsche Zeitung“
„Fazit: Die große Koalition torkelt noch einen Sommer; dann ist Schluss. Vermutlich im kommenden Winter werden Neuwahlen stattfinden. Die CDU muss von sofort an eine Kanzlerkandidatin oder einen -kandidaten finden; die SPD eine Vorsitzende, einen Fraktionschef und vor allem sich selbst. (...) Weder Nahles noch Kramp-Karrenbauer sind strahlende Führungsfiguren. Das waren andere Parteichefs auch nicht. Aber die Bereitschaft, Leute, die sich mit all ihren Schwächen engagieren und exponieren, sehr schnell politisch hinzurichten, ist stark gestiegen.(...) Gerade die Umstände von Nahles' Rückzug legen nahe, dass letztlich nicht der politische Stress, sondern die Verwundung der Seele den Ausschlag gab.“
„Spiegel Online“
„Wie tief verletzt die SPD-Chefin persönlich ist, zeigt der letzte Absatz ihrer E-Mail. Da wechselt Nahles vom „Wir“ zum „Ihr“: „Ich hoffe sehr, dass es Euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken und so Personen zu finden, die Ihr aus ganzer Kraft unterstützen könnt“, schreibt sie. Neben den Parteiämtern gibt Nahles auch ihr Bundestagsmandat auf.“
„Hannoversche Allgemeine Zeitung“
„Voreilig rufen manche in der SPD jetzt nach Neuwahlen. Doch welches Problem soll damit gelöst werden? Besser wäre es, wenn gerade in Zeiten immer neuer Youtube-Aufregungen alle Parteien mal einen Gang zurückschalten würden. Die Deutschen haben bei der Bundestagswahl 709 Abgeordnete gewählt, davon sind 87 Prozent untereinander koalitionsfähig und pro-europäisch. Es gibt insofern überhaupt kein Problem in Deutschland. Dass die Politik immer wieder stockt, liegt allein an den jämmerlichen Spielchen von Politikern, die die Interessen ihrer Person und ihrer Partei zu wichtig nehmen und keine dienende Funktion gegenüber ihrem Land und in der EU akzeptieren.“
„Mittelbayerische Zeitung“
„Schwindende Glaubwürdigkeit, interne Machtkämpfe, schleppende Erneuerung - all das hängt keineswegs nur an einer Personalie. Nahles hat Altlasten ihrer Vorgänger übernommen, und derer gibt es viele: Ganze neun Vorsitzende haben die Sozialdemokraten allein in dem Zeitraum verschlissen, in dem bei der CDU durchgängig Angela Merkel die Geschäfte führte. Nahles ist es nicht gelungen, das Absacken aufzuhalten. Nun macht sie kurzen Prozess. Ihre plötzliche Rücktrittsankündigung hat auch etwas Trotziges an sich. Als wolle sie ihren internen Gegner zurufen: Dann macht es doch besser!“
„Berliner Zeitung“
„Putschgerüchte gab es seit Wochen, wenn nicht seit Monaten, und in allen Äußerungen, die in den vergangenen Tagen kursierten, schwang ein sexistischer Ton mit. „Wir schämen uns für dich“ – hätte das jemand zu Sigmar Gabriel gesagt? Zu Martin Schulz? Gab es da nicht einen gewissen letzten Respekt für jemanden, der sein Leben der Partei gewidmet hat?“
„Südwest Presse“
„Dem Titel einer Volkspartei konnte die SPD jedoch auch schon bei 15 oder 16 Prozent nicht gerecht werden. Weder hat sie das Programm, noch das Personal, weder die Strukturen, noch die Sprache, um breite Teile der Gesellschaft an sich zu binden. Der SPD sind nicht nur die jungen Leute von der Fahne gegangen. In so gut wie jeder Gruppe hat sie massiv an Unterstützung verloren. Es gibt ganze Landstriche, in denen sie keine Rolle mehr spielt - daran ändert auch der Nahles-Rückzug nichts.“
„Zeit Online“
„Will die SPD als relevante Kraft überleben, muss sie jetzt das tun, was sie nicht mag: radikal sein. Sie muss einen inhaltlichen und personellen Schnitt wagen. Und das bedeutet, die große Koalition zu verlassen. Sie muss sozialdemokratische Ideen für die digitalen, demografischen, klima- und sozialpolitischen Herausforderungen entwickeln. Oder, um es pathetischer zu machen: Sie muss daran glauben, gebraucht zu werden. Und das mit neuen Schwerpunkten beweisen.“
„Die Presse“ aus Wien
„Das Dilemma der Sozialdemokratie wird mit Andrea Nahles nicht verschwinden. Die SPD hat vier grundlegende Probleme: Ihr fehlen attraktive Spitzenkandidaten, eine zeitgemäße Organisation, ein klares inhaltliches Profil und eine solide Wählerbasis. Sozialdemokraten haben es nun schon seit mehreren Jahren in ganz Europa schwer. Der Befund ist überall ähnlich. Die traditionellen Milieus haben sich aufgelöst; die verbliebenen Arbeiter wählen schon lange nicht mehr automatisch links, unter anderem weil für sie Migrationsfragen bedeutender geworden sind als soziale Themen.“
„Neue Zürcher Zeitung“ aus Zürich
„Unser Land braucht eine starke SPD.' Diesem Satz in der Rücktrittserklärung der Parteivorsitzenden Andrea Nahles kann man ohne Umschweife beipflichten. Genau diesem Ziel dient der Rücktritt der glücklosen Politikerin vom Partei- und vom Fraktionsvorsitz. (...) Ohne starke Vorsitzende kann eine Volkspartei nicht erfolgreich sein, der Schritt von Nahles ist folgerichtig. (...) Als Regierungspartei könnte die SPD unter einem Vorsitzenden Scholz wohl noch eine Weile funktionieren. Aber sie bliebe das Rätsel, das sie heute schon für ihre Wähler ist: Steht sie nun zur Politik der grossen Koalition, oder opponiert sie gegen sie? “
„De Tijd“ aus Brüssel
„In Deutschland ist eine schwere politische Krise in der Mache. Angela Merkel hat zwar zugesichert, weiter mit der SPD zusammenzuarbeiten. Aber es ist deutlich, dass die Bundeskanzlerin die Regie der deutschen Politik entglitten ist. Auch in Deutschland ist das klassische Zweiparteiensystem endgültig begraben. Die klassische Gegenüberstellung von Mitte-Rechts und Mitte-Links gibt es in keiner der großen Demokratien in Europa mehr. Der europäischen Wähler hat am 26. Mai Schläge ausgeteilt. Bei uns und anderswo. Er hat die Technokratie in der politischen Mitte abgestraft. Ein Regierungsstil, bei dem nicht mehr geführt, sondern nur noch verwaltet wird. Das war das Wahrzeichen von Angela Merkel. Diese Ära ist vergangen.“ (Tsp, dpa)
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