Empörung über Impfvordrängler: Ein wenig Flexibilität darf es schon sein
In mehreren Bundesländern wurden Menschen geimpft, obwohl sie offiziell noch nicht dran waren. Nicht immer ist das gleich ein Bußgeld wert. Ein Kommentar.
Je länger die Pandemie an den Nerven zerrt, desto größer die Empörungsbereitschaft. Das erschwert es, zwischen tatsächlichen und vermeintlichen Skandalen zu unterscheiden. Vor Kurzem bereitete die geringe Impfbereitschaft des Kranken- und Pflegepersonals Sorgen. Nun rückt das umgekehrte Phänomen in die Schlagzeilen: Impfvordrängler. Menschen, die sich mithilfe von Amt und Beziehungen eine Impfung verschaffen, obwohl sie noch nicht dran sind.
Es gibt offenbar Fälle, wo Menschen Bekanntschaften und Macht missbrauchen, um außer der Reihe geimpft zu werden, in Halle und anderswo. Das muss aufgeklärt werden. Was dann? Die Stiftung Patientenschutz fordert Strafen, zumindest Bußgelder.
Aber ist das Problem so verbreitet, dass dieser bürokratische Aufwand nötig ist? Und nicht zu vergessen: Hierzulande gelten – anders als in Frankreich oder Spanien – spürbare Geldbußen gegen Menschen, die Maskenpflicht, Abstands- und Quarantäneregeln missachten, als überzogen.
Wenn sich herausstellt, dass es sich bei der Vordränglerei um eine gezielte Umgehung der Prioritäten zum persönlichen Vorteil handelt und die Vordrängler und ihre Helfer Politiker und mit ihnen verbandelte Ärzte sind, drohen Konsequenzen auch ohne Bußgeldkatalog: Wird ihr Fehltritt öffentlich, leidet ihr Ansehen. Wer wird bei der nächsten Wahl für solche Volksvertreter stimmen? Wer mag sich solchen Ärzten anvertrauen?
Es gibt auch die umgekehrten Beispiele. Impfberechtigte sind nicht zum Termin erschienen; ihre Dosen sind übrig und müssten weggeschmissen werden. Warum soll man sie nicht zum Schutz anderer verwenden, die der Gemeinschaft trotz hohen Coronarisikos dienen: Geistliche, die Kranken wie Gesunden Seelsorge leisten und Sterbenden Trost spenden; Polizist:innen, die womöglich auf Coronaleugner treffen.
Es ist nur pragmatisch, sie mit überzähligen Dosen zu impfen. Das nicht zu tun oder sie für eine angeblich unfaire Vorteilsnahme zu bestrafen, wäre in dieser Konstellation der Skandal.
Großer Graubereich zwischen den Extremen
Die geschilderten Fälle sind Extreme, über die sich die meisten wohl rasch einigen können. Machtmissbrauch für den persönlichen Impfvorteil ist unzulässig. Die pragmatische Nutzung überzähliger Dosen für Menschen, die der Gemeinschaft dienen, ist sinnvoll. Weit größer wird die Zahl der Fälle im Graubereich dazwischen sein.
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Eine gewisse Unschärfe ist unvermeidbar bei der Mammutaufgabe, zunächst mehr als 70 Millionen Menschen über 16 Jahren zu impfen, die sich in sehr unterschiedlicher Bevölkerungsdichte über Deutschland verteilen. Es sind noch keine Impfungen für Kinder und Jugendliche zugelassen.
Man kann zwar streng nach Alter, Prioritätenliste und Wohndaten ausrechnen, wie viele Dosen wann wo gebraucht werden. Aber abgesehen von der logistischen Herausforderung wird die Realität im Impfalltag nie deckungsgleich mit dem Plan sein.
Die Versuchung im Laufe eines Impftags
Das öffnet unvermeidlich die Versuchung: Was tun im Laufe und am Ende eines Impftags, wenn absehbar ist, dass Dosen übrig bleiben? Gewiss darf nicht jedes Impfzentrum die Prioritäten nach Gutdünken anpassen. Wer sie für grundsätzlich falsch hält, muss die Politik drängen, sie zu ändern. Aber ein bisschen lokale Flexibilität darf sein, solange sie nachvollziehbar bleibt.
Da ist die 60-jährige Supermarktkassiererin, die den 85-jährigen Vater zu Hause pflegt und zum Impftermin begleitet. Warum sie nicht mitimpfen, wenn die Dosen da sind? Sein Schutz wird dadurch besser.
Es sind aber auch viel zweifelhaftere Gegenbeispiele möglich: Vielleicht lädt der Impfarzt, der auch Vorstand im örtlichen Tennisclub ist und auf eine Baugenehmigung wartet, Bürgermeister und Gemeinderäte ein und hat zufällig Impfdosen parat?
Ironische Folgen der Empörung
Die Geschichten um vermeintliche und echte Impfvordrängler sind so bunt wie des Lebens pralle Fülle. Wie auch immer sich die Ausnahmen von der Regel zutragen, die Fälle werden sich herumsprechen.
Soziale Kontrolle ist meist effektiv, jedenfalls in einer offenen Gesellschaft. Da reicht die Macht der Mächtigen selten aus, um Skandale geheim zu halten. Die bereits bekannt gewordenen Fälle sprechen für sich. Und vielleicht haben sie ja sogar ein Gutes: Wenn Impfstoff dadurch noch begehrenswerter wird, sodass die Impfbereitschaft der Bevölkerung weiter zunimmt.
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