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Gewalt und Gegengewalt. Vor einer Woche leisteten die Muslimbrüder dem Militär in Kairo noch Widerstand. Inzwischen wurden viele ihrer Anführer festgenommen.
© dpa

Machtkampf in Ägypten: "Ein Verbot wird die Muslimbrüder nicht stören"

In Ägypten verschwinden immer mehr Angehörige der Muslimbruderschaft hinter Gittern. Im Interview erklärt der französische Islamismus-Experte Alain Chouet, warum die Muslimbrüder in den Untergrund zurückkehren und sich dort radikalisieren könnten.

Die ägyptischen Sicherheitskräfte haben zahlreiche Führungspersonen der Muslimbruderschaft festgesetzt. Verschwindet die Muslimbruderschaft als nächstes im Untergrund?

Das Verbot der Muslimbruderschaft, über das jetzt diskutiert wird, dürfte ihre Anhänger nicht sehr stören. Für die Muslimbruderschaft wäre ein Verbot nichts Neues – schließlich waren ihre Mitglieder zwischen 1928 und 2011 weit gehend im Untergrund aktiv. Die Anhänger der Muslimbruderschaft sind bereit, wieder dahin zurückzukehren, wenn es notwendig ist.

Droht in Ägypten eine Entwicklung wie in Algerien, wo die radikale „Islamische Heilsfront“ 1992 vom Militär verboten wurde und und ein Jahrzehnt des Bürgerkriegs mit tausenden Toten folgte?

Die Lage in Algerien lässt sich nicht mit der Situation in Ägypten vergleichen. Während in Algerien das Militär von zersplitterten Clans beherrscht wird, erscheint die Armee in Ägypten wie ein einheitlicher Block. Dennoch ist es denkbar, dass die Mulimbrüder in Ägypten die Gewaltspirale weiter in Gang setzen, wenn sie erst einmal in den Untergrund gedrängt werden sollten. Dies würde auch dem Denken ihrer früheren Vordenker Hassan al Banna und Sajid Kutub entsprechen. Es lässt sich überhaupt nicht ausschließen, dass sich „Märtyrer“ in den Reihen der Muslimbrüder bereit finden, um größere Gewaltakte auszuüben.

Besteht die Gefahr, dass auf dem Sinai neue Terrornester der Dschihadisten entstehen?

Die ägyptische Staatsgewalt hat es auf dem Sinai angesichts der Beduinenstämme, die keine Einmischung in ihre Angelegenheiten wollen, und der bewaffneten Banden traditionell schwer. Wegen der Nähe zu Israel richtet sich die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit ganz besonders auf den Sinai. Es ist gut denkbar, dass radikale Islamisten besonders in dieser Region aktiv werden könnten, um eine internationale Medienresonanz zu erzeugen.

Welche Rolle spielen im ägyptischen Machtkampf die Salafisten, die noch radikaler auftreten als die Muslimbrüder?

Ich kenne die arabische Welt seit fast 50 Jahren, und ich mache keinen Unterschied zwischen Muslimbrüdern und Salafisten. In meinen Augen sind Salafisten und Muslimbrüder zwei Seiten derselben Medaille. Die Führungspersönlichkeiten der Salafisten sind ausnahmslos aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen. Wenn von „guten“ Muslimbrüdern und „bösen“ Salafisten die Rede ist, dann handelt es sich eher um eine Inszenierung, die beide Gruppen aufführen.

Alain Chouet leitete die Abteilung für Gegenspionage, Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung beim französischen Geheimdienst DGSE. Als Autor beschäftigte er sich mit dem Islamismus.
Alain Chouet leitete die Abteilung für Gegenspionage, Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung beim französischen Geheimdienst DGSE. Als Autor beschäftigte er sich mit dem Islamismus.
© promo

Was unterscheidet die Situation in Ägypten vom Bürgerkrieg in Syrien?

Ägypten hat bereits eine Revolution hinter sich, während wir es in Syrien immer noch mit dem Kampf eines seit einem halben Jahrhundert herrschenden Regimes gegen eine islamistische Opposition zu tun haben. Die Bevölkerung in Ägypten ist homogener, und auch das regionale Umfeld ist im Fall Ägyptens ein friedlicheres. Anders sieht es jenseits der Grenzen Syriens aus: In der Türkei, im Irak, in Jordanien, im Libanon – überall wirken Kräfte, die Damaskus feindlich gegenüberstehen.

Die EU hat Waffenlieferungen an die Übergangsregierung in Kairo gestoppt. Eine richtige Entscheidung?

Die Entscheidung hat keinerlei Auswirkungen. Die ägyptische Armee verfügt über ausreichend Waffen und Munition, um die Bevölkerung unterdrücken zu können.

Welche Folgen hätte es, wenn sich die Übergangsregierung in Kairo verstärkt zu den Saudis hinwendet, die das brutale Vorgehen gegen die Muslimbrüder unterstützen?

Die Rolle Saudi-Arabiens ist sehr widersprüchlich. Riad hat jahrzehntelang die Muslimbrüder in Ägypten finanziell unterstützt. Heute beginnt man in Saudi-Arabien zu begreifen, dass diese Unterstützung gefährlich ist. Trotzdem gibt es in dem Golfstaat immer noch zahlreiche private Geldgeber, die die Muslimbrüder unterstützen. Im Moment sind vor allem der saudiarabische König Abdallah und seine Berater auf Distanz zu den Muslimbrüdern gegangen. Aber ich bin nicht sicher, ob das auch für die übrigen Mitglieder der Königsfamilie gilt.

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