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Einer von 20 Schädeln, die im September 2011 von der Berliner Charité an die Opferorganisation "Ovaherero/Ovambanderu - Rat für Dialog über den Genozid von 1904" übergeben wurden.
© AFP

Bundesregierung nennt Namibia-Massaker "Völkermord": Ein spätes Stück Wahrheit

Das Ideal der Wahrhaftigkeit gebietet, Geschichte zu akzeptieren, wie sie war. Im Fall der Herero und Nama dauerte das sehr lange. Schuld daran sind ein latenter Rassismus und die Scheu vor jedem Verdacht, die Verbrechen der Nazis zu relativieren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Neben all dem tagesaktuellen Getöse – Griechenland-Rettung, russischer Krieg in der Ukraine, Flüchtlingsdramen, IS-Terror – kommt diese Meldung eher leise daher. Aber sie hallt nach. Die Bundesregierung will die Massaker deutscher Truppen vor mehr als 100 Jahren im heutigen Namibia künftig als „Völkermord“ bezeichnen. Dazu soll es auch eine gemeinsame Erklärung mit Namibia geben, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika. Dort waren zwischen 1904 und 1908, als Deutschland noch Kolonialmacht war, bis zu 85000 Herero und Nama von kaiserlichen Truppen ermordet worden. Die Kolonialherrschaft endete am 9. Juli 1915, also fast auf den Tag genau vor hundert Jahren.

Nach Angaben des Auswärtigen Amts gilt für die Bundesregierung nun als Leitlinie der Satz: „Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord.“ Mehr als hundert Jahre hat dieses Eingeständnis gedauert. Dabei sind die Fakten seit Jahrzehnten bekannt. Die „Nation der Herero als solche“ müsse vernichtet werden, war den Soldaten von Generalleutnant Lothar von Trotha befohlen worden, dessen Familie sich im November 2004 in einer eindrucksvollen Geste bei den Nachkommen der Opfer entschuldigte. Wenige Monate zuvor hatte Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul als erste offizielle Vertreterin einer Bundesregierung an einer Gedenkfeier in Namibia teilgenommen und das Vorgehen der deutschen Truppen als Völkermord bezeichnet. Am vergangenen Mittwoch schloss sich in der „Zeit“ auch Bundestagspräsident Norbert Lammert diesem Urteil an.

Dies war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts

Beigetragen zur langen Leugnungsgeschichte dieses Unrechts haben neben der Angst vor Schadensersatzansprüchen vor allem zwei Faktoren. Da ist, erstens, der latente Rassismus, der selbst bei Genoziden noch zwischen gleichwertigen und ungleichwertigen Opfern unterscheidet. In dieser Logik war es weitaus ärger, vor mehr als siebzig Jahren den jüdischen Intellektuellen in Auschwitz zu vergasen, als vor 110 Jahren eine Herero-Familie in der kargen Omaheke-Wüste verdursten zu lassen.

Und da ist, zweitens, die fast panische Scheu vor jedem Verdacht einer Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen. Dabei minimiert es diese um keinen Deut, wenn zusätzlich der Holodomor Stalins in der Ukraine thematisiert wird, der Völkermord an den Armeniern, das Abschlachten von Tutsis durch Hutu in Ruanda, das Massaker von Srebrenica – oder eben der Genozid der deutschen Kolonialmacht in Namibia. Dies war der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Das Ideal der Wahrhaftigkeit gebietet, Geschichte zu akzeptieren, wie sie war. Ein kleines Stück des langen Weges dorthin wurde nun zurückgelegt.

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