Russland und die Ukraine: Stalins verdrängter Hungermord in der Ukraine
Vor 81 Jahren überzog Stalin die Ukraine mit einer Massenhungersnot, Millionen Menschen starben. Lange mussten die Überlebenden schweigen. Viele Historiker sprechen von Völkermord.
Es gibt einen Reiz-Reaktions-Mechanismus, der zwei Länder in Beziehung setzt und sofort ein Verbrechen assoziiert. Deutschland–Russland: Stalingrad, Deutschland–Israel: Auschwitz, Amerika–Vietnam: My Lai, Frankreich–Algerien: Massaker von Paris, Türkei–Armenien: Musa Dagh.
Seltsam nur, dass in der Krise zwischen Russland und der Ukraine ein Begriff völlig fehlt, ausgeblendet, verdrängt wird – der Holodomor. Das heißt wörtlich aus dem Ukrainischen „Mord durch Hunger“. Gemeint ist die durch Stalins Politik verursachte Hungersnot im Winter 1932/1933, der mindestens drei Millionen Menschen zum Opfer fielen, andere Schätzungen belaufen sich auf 14,5 Millionen. In der Ukraine wird an jedem vierten November-Sonntag mit Gottesdiensten und Lichterketten daran erinnert. Zeitzeugen leben nur noch wenige. Was sie erzählen, lässt das Blut in den Adern gefrieren. Die Menschen stritten sich in ihrer Not um Baumrinden, Blätter, Knospen und Kaulquappen. Mütter töteten aus Verzweiflung ihre Kinder, um sich von deren Fleisch zu ernähren.
Der Holodomor wurde auf Druck von Moskau tabuisiert
Lange mussten die Überlebenden schweigen. Der Holodomor wurde auf Druck von Moskau tabuisiert. Es habe eine Missernte gegeben, hieß es, deren Folgen durch den Widerstand der ukrainischen Bauern gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft verschlimmert worden sei. Doch seit rund 25 Jahren wird die Legende von der bloßen Naturkatastrophe durch diverse Archivfunde widerlegt.
War die Vernichtung der ukrainischen Bauern die Absicht Stalins und sein erklärtes Ziel? Oder war sie die Konsequenz seiner brutalen Kollektivierungspolitik? An dieser Frage scheiden sich die Experten noch bei der Einordnung des Holodomor. Für Raphael Lemkin, der die Völkermord-Konvention entworfen hat, ist die Hungersnot „das klassische Beispiel eines sowjetischen Genozids“. Zu demselben Schluss kommt Yves Ternon in seinem Buch über den verbrecherischen Staat („Völkermord im 20. Jahrhundert“, Hamburger Edition 1996): Der Tatbestand des Völkermords in der Ukraine sei „indiskutabel“. Auch das ukrainische Parlament erkannte den Holodomor im Jahre 2006 als Genozid an – ebenso wie die USA, der Vatikan, Australien, Polen, Spanien, Tschechien und viele andere Länder.
Russland lehnt die Bezeichnung "Völkermord" ab
Russland dagegen lehnt die Bezeichnung „Völkermord“ für den Holodomor strikt ab. Auch die Historikerin Barbara B. Green kann sich dieser Charakterisierung nicht anschließen. In ihrer umfangreichen Studie über den stalinistischen Terror und Fragen des Genozids (abgedruckt in „Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide“, Westview Press 1996) kommt sie zu dem Ergebnis: „Der Tod von Millionen Ukrainern und anderen Sowjetmenschen während der Hungersnot war nicht die Absicht, sondern eher die Konsequenz der skrupellosen ökonomischen Politik Stalins.“
Kein Zweifel indes, dass der Holodomor mittlerweile ein Teil des kollektiven nationalen Gedächtnisses vieler Ukrainer geworden ist. Den höchsten Blutzoll zahlte im Winter 1932/33 vor allem die Dorf- und Landbevölkerung im Osten und Süden der damaligen Sowjetrepublik. Anschließend wurden in den entvölkerten Regionen gezielt russische Bauern angesiedelt. Auch diesen Teil der Vergangenheit sollte bedenken, wer über die Gegenwart ein Urteil fällt.