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Demonstranten mit französischer Fahne in Paris
© AFP/Abdulmonam EASSA

Proteste gegen Macrons Energiepolitik: Ein sehr französischer Reflex

In Frankreich eskaliert der Konflikt um die Energiepolitik von Macron. Doch verlaufen die Fronten wirklich so, wie die "Gelbwesten" behaupten? Eine Kolumne.

"Die Eliten reden vom Weltende, wir vom Ende des Monats!“, protestieren die gilets jaunes, die gelben Warnwestenträger, die in Frankreich auf die Straße gehen und ihren Unmut kundtun. Ihrer Meinung nach ist Frankreich gespalten: einerseits die Eliten, die in den Grandes Ecoles geschult wurden und die Erde vor der Klimakatastrophe bewahren wollen. Anderseits die Demonstranten, Durchschnittsfranzosen, die ihre Kaufkraft wegen steigender Spritpreise schwinden sehen.

Aber ist das nicht ein wenig schablonenhaft, muss man wirklich zwischen dem Geldbeutel und dem Planeten wählen? Ein anachronistischer, sehr französischer Reflex. Der noch aus der Zeit stammt, als die Anti-Atom-Bewegung in meinem Land niemanden hinter dem Ofen hervorlockte. Die Regierung setzte voll und ganz auf Kernkraft, und kaum jemand stellte das infrage. Auch dann nicht, wenn das nächste AKW quasi im Vorgarten stand.

Im Elsass schauten wir lange Zeit amüsiert zu: Die meisten Demonstranten, die vor dem AKW Fessenheim Sit-ins veranstalteten, kamen aus Baden-Württemberg. Wir begegneten den deutschen Ökos mit Herablassung. Was mischten sie sich überhaupt ein? Sie beklagten sich, weil sie 20 Kilometer entfernt von einem atomaren Pulverfass lebten. Die Franzosen hingegen waren fest davon überzeugt, dass radioaktive Wolken Landesgrenzen respektieren.

So hatte die Tschernobyl-Wolke auch nicht die Pilze in den Vogesen kontaminiert, sondern war brav auf der anderen Seite des Rheins stehen geblieben. Der Kampf gegen die Kernkraft gehört nicht zu der ansonsten gut bestückten Sammlung an Themen, für die Franzosen auf die Straße gehen. Wir demonstrieren lieber gegen soziale Ungerechtigkeit.

Die Franzosen wollen jetzt den Ausstieg - und warten

Aber es hat sich einiges verändert. Darauf weist eine neue Umfrage hin. 60 Prozent der Franzosen wollen eine rasche Herabsetzung des Anteils der Kernkraft an der Stromproduktion. Sie beklagen sich sogar, dass die Energiewende im Vergleich zu den Nachbarn so schleppend vorankäme. Sie verlangen die verstärkte Entwicklung erneuerbarer Energien. Unzufrieden sind vor allem die jüngeren Franzosen unter 35 Jahren (82 Prozent!), selten die über 65-Jährigen.

Emmanuel Macron versucht zu beschwichtigen, indem er jetzt seine energiepolitischen Leitlinien für die kommenden Jahre ankündigt. Aber er bleibt vorsichtig: Zwischen Planet und Beschäftigung heißt es, Balance zu wahren. Kohlekraftwerke sollen bis 2022 stillgelegt werden. Der Anteil der Atomkraft am Energiemix soll bis 2035 auf 50 Prozent reduziert werden (gegenüber 75 Prozent heute). 14 Reaktoren sollen abgeschaltet werden. Aber so richtig eilig hat es Macron nicht.

Es ist nicht die erste Enttäuschung in dieser Hinsicht. Schon François Hollande hatte sich verpflichtet, den Anteil der Kernenergie zu reduzieren, dann aber nicht die Mittel dafür zur Verfügung gestellt. Fessenheim ist noch immer am Netz, und man hätte zwölf Reaktoren in sechs Jahren abschalten müssen. Unmöglich. Also schon wieder ein leeres Versprechen? Gehen Macrons energiepolitische Maßnahmen angesichts der ökologischen Dringlichkeit weit genug?

Was die Kernenergie betrifft, sind wir noch sehr weit vom deutschen Ausstieg entfernt, der allerdings, so betonen die Franzosen, keinesfalls ein Ausstieg aus der extrem umweltschädlichen Kohlekraft war. Aber wir sind auch längst nicht mehr bei der traditionellen Gutgläubigkeit der Franzosen in Sachen Kernenergie. - Übersetzt aus dem Französischen von Odile Kennel.

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